Materialforschung
Clevere Kunststoffe
Forscher tüfteln an Materialien mit Formgedächtnis: eine verbogenes Brillengestell, das seine Ursprungsform wieder annimmt oder eine Jaluosie, die sich - je nach Temperatur - öffnet oder schließt. Ganz ohne Strom. Was bisher nur mit speziellen Metalllegierungen möglich war, soll künftig auch mit Kunststoffen funktionieren
Wenn ein verbogenes Brillengestell, auf das sich versehentlich jemand gesetzt hat, wieder seine ursprüngliche Form annimmt, dann war kein Zauberer, sondern Materialforscher am Werk: Für das Brillengestellt wurde eine Formgedächtnislegierung verwendet, also ein spezieller metallischer Werkstoff, der sich trotz einer zwischenzeitlich starken Verformung an seine ursprüngliche Gestalt "erinnern" kann. Möglich macht das die besondere Kristallgitterstruktur dieser Metalle, die durch äußere Einwirkung wie Temperaturänderungen, UV-Lichteinstrahlung oder Krafteinwirkungen nicht zerstört wird und zwischen zwei Formen hin- und her schalten kann.
Zu den Stoffen mit Erinnerungsvermögen gehören nicht nur Metalle, sondern auch Kunststoffe. Wissenschaftler sprechen dann von Formgedächtnispolymeren. Doch leider erwiesen sich diese Verbindungen bislang als ziemlich vergesslich: sie konnten nur ein einziges Mal von einer Form in die andere Form umschalten. Bei diesem sogenannten Einweg-Effekt nimmt das Material, das zunächst bei einer tiefen Temperatur verformt wurde, sein ursprüngliche Form wieder an, wenn es auf eine höhere Temperatur erhitzt wird. Das Material erinnert sich beim Aufheizen an seine Ausgangsform und behält diese auch bei einer nachfolgenden Abkühlung bei. Wird es erneut abgekühlt, behält es diese Form bei. Vor kurzem ist jedoch Forschern des Helmholtz-Zentrums Geesthacht (HZG) auf diesem Gebiet ein Durchbruch gelungen: Sie entwickelten einen Kunststoff, der beliebig oft zwischen zwei Formen hin- und herschaltet - ein Temperaturwechsel genügt. "Viele hundert Mal kann der Kunststoff seine Form ändern, sobald die Umgebungstemperatur bestimmte Schwellenwerte über- und wieder unterschreitet", sagt Andreas Lendlein, Leiter des Teltower Instituts für Biomaterialforschung des HZG. An einem Modell einer Fensterjalousie konnten die Wissenschaftler die Fähigkeit ihres temperaturgesteuerten Werkstoffes bereits demonstrieren: Je nachdem welche Temperatur sie wählten, öffnen oder schließen sich die Lamellen der Jalousie.
Dabei ist der Temperaturbereich, in dem sich die Lamellen bewegen, frei wählbar. Auch die Art der Formänderung können die Forscher dem Kunststoff antrainieren. "Unser Verfahren beruht auf einer speziellen thermomechanischen Behandlung", sagt Marc Behl, Abteilungsleiter am Institut für Biomaterialforschung. Zunächst erhitzen die Forscher den Kunststoff von Raumtemperatur auf eine hohe Temperatur, in diesem Fall 80 °C, und bringen ihn in die gewünschte Form. Bei dem Jalousie-Modell öffnen sie dabei die Lamellen ganz weit. Danach lassen sie den Kunststoff in der Gestalt wieder abkühlen. Je nachdem, auf welche Temperatur zwischen Raumtemperatur und 80 Grad Celsius nun der Kunststoff erwärmt wird, lässt sich das Ausmaß der Gestaltänderung einstellen. Im Modell: Die Lamellen öffnen sich umso mehr, je näher die Umgebungstemperatur den 80 Grad Celsius kommt ist. "Das Material hat ein Temperatur-Gedächtnis bekommen", erklärt Behl. Die Programmierung lässt sich auch aufheben: Bei starker Erhitzung von 90 Grad Celsius und mehr verliert der Kunststoff sein Gedächtnis wieder.
Unterschiedlichste Anwendungen wären mit dem Kunststoff mit Temperatur-Gedächtnis vorstellbar. Stromlose Jalousien, die die Verdunklung des Raumes nur über ihre Erwärmung durch die Sonne steuern, sind nur ein Beispiel. Vorstellbar wären auch Belüftungsschlitze, die sich je nach Temperatur öffnen oder wieder schließen. In Zukunft hoffen die Teltower Forscher Kunststoffe mit Temperaturgedächtnis zusammen mit der Industrie für verschiedene Anwendungen anbieten zu können.
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