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Blickwinkel

Brauchen wir den Pflicht-Pieks?

Nach eine Häufung von Masernfällen streiten Politiker über eine Impfpflicht. Darf und kann man Vernunft einfach anordnen oder reicht dazu eine Beratung? Zwei Blickwinkel.


Gérard Krause. Professor für Infektionsepidemiologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung

„Eine Impfpflicht ist nicht angemessen. Viele andere Möglichkeiten sind noch nicht ausgeschöpft.“

Impfungen sind sehr wirksam. Die Kindersterblichkeit zum Beispiel konnte durch sie in einem Ausmaß reduziert werden, das eine Verbesserung der Lebensumstände (Hygiene, Trinkwasser und Ernährung) allein nicht bewerkstelligen konnte. Im Fall der Pocken, die bei Millionen Menschen zu Erblindung und Tod geführt hatten, kann inzwischen sogar auf die Impfung verzichtet werden, weil durch weltweite Impfkampagnen die Ausrottung gelang. Auch für Masern und Kinderlähmung könnte dieses Ziel erreicht werden.

Viele schwere Krankheiten ließen sich also durch umfassende Impfungen flächendeckend besiegen. Allerdings, für manche Menschen mit einer ausgeprägten Immunschwäche sind bestimmte Impfungen nicht geeignet. Gerade sie haben jedoch ein besonders hohes Risiko, zum Beispiel an Masern schwer zu erkranken. Wäre es also nicht wichtig, eine Impfpflicht für all jene zu fordern, für die eine Impfung sinnvoll ist, um so diejenigen vor einer Erkrankung zu bewahren, die sich nicht selbst schützen können? Und muss die Gesellschaft nicht ähnlich wie bei der Gurtpflicht im Auto auch eine Impfpflicht einführen können, um diesen Schutz sicherzustellen?

Bleiben die unerwünschten Wirkungen. Bei der Gurtpflicht sind sie vernachlässigbar. Das Risiko eines ernsthaften Impfschadens ist bei den heute empfohlenen Impfungen ebenfalls extrem gering – wenn auch nicht komplett vernachlässigbar. Dies muss bei der Diskussion um die Impfpflicht bedacht werden. Immerhin handelt es sich beim Impfen um einen Eingriff an einem gesunden Menschen, bei dem man vorher nicht weiß, ob er überhaupt an der zu vermeidenden Infektion jemals erkranken wird.

Es gibt Konstellationen, in denen sichergestellt werden sollte, dass alle Beteiligten geimpft sind. Zum Beispiel sollte man von medizinischem Personal einfordern, sich gegen Grippe impfen zu lassen, wenn es besonders immungeschwächte Patienten versorgt. Wer dazu nicht bereit ist, sollte sich besser ein anderes berufliches Einsatzgebiet suchen. Eine Impfpflicht ist dies jedoch nicht.

Ich meine, dass wir eine allgemeine Impfpflicht nicht benötigen. Alle anderen Möglichkeiten, die Impfabdeckung zu optimieren, sind noch lange nicht ausgeschöpft. Allzu oft sind es fehlende Erinnerungsverfahren, unzureichende Informationen oder logistische Hürden, die dazu führen, dass empfohlene Impfungen versäumt werden.


Horst von Bernuth Professor für Pädiatrische Immunologie und Infektiologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin

„Zur Schließung von Impflücken muss lebenslang freundlich und selbstverständlich aufgefordert werden.“

Impfungen sind Opfer ihres eigenen Erfolges: Erkrankungen, die durch Impfungen vermeidbar geworden sind, werden wegen ihrer Seltenheit nicht mehr als Gefahr erlebt, und der Impfplan wird zur abstrakten Empfehlung. Die Erfolgsgeschichte der Impfungen begann 1807 in Bayern mit der Pflichtimpfung gegen Pocken, deren weltweite Ausrottung bis 1980 gelang. Aktuelles Ziel der World Health Organization (WHO) ist unter anderem die globale Eliminierung der Masern. Impfungen dienen einerseits dem Schutz des geimpften Menschen selbst, andererseits können sich Erkrankungen in einer ausreichend geimpften Bevölkerung nicht mehr zur Epidemie ausbreiten. So schützt jede Impfung auch den, der nicht geimpft werden kann: Säuglinge und Kleinkinder beispielsweise. Eine Impfquote von über 95 Prozent würde die Verbreitung der Masern verhindern. 

Warum sind dann die Impfquoten in Deutschland so niedrig? Aus Elternbefragungen wissen wir, dass nur rund ein Prozent der Eltern sich strikt weigert, ihre Kinder impfen zu lassen. Zwei Drittel der nicht geimpften Kinder sind vielmehr auf Säumigkeit und ein Drittel auf überwindbare Skepsis zurückzuführen. Diese Skepsis gründet meist auf Gefühlen: Mit der gestiegenen Anzahl der Impfungen werde übertrieben; es herrscht Angst, dass jede Impfung auch schaden könnte, und es bleibt unklar, vor welcher Krankheit die Impfungen eigentlich schützen. Dies zeigt, dass wir eine strafbewehrte Impfpflicht wohl nicht benötigen, sondern automatische Erinnerungen vor Impfterminen und zuhörende, individuelle und kompetente Aufklärung durch Ärzte. Kinderärzten wird dabei immer noch hohes Vertrauen entgegengebracht – daher muss auch ihre Impfberatung, unabhängig davon, ob anschließend geimpft wird, vergütet werden. Die rationalen Argumente von Aufklärungskampagnen erreichen die emotionalen Gründe für Impfskepsis hingegen kaum.

Wichtig ist ferner, proaktiv vorzugehen: Zur Schließung von Impflücken muss lebenslang freundlich und selbstverständlich aufgefordert werden. Die verpflichtende Impfberatung beim Eintritt in Kindertagesstätten ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch die freundliche Aufforderung zur Impfung muss auch für Jugendliche mit Beginn des Studiums oder der Ausbildung sowie für Erwachsene durch ihre Hausärzte selbstverständlich bleiben.

Empfehlungen der Ständigen Impfkommission

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