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Polarforschung

Alles anders in der Arktis?

Forschungsschiff Polarstern ankert im arktischen Eis

Das Forschungsschiff Polarstern ankert im arktischen Eis. Am 7. September 2023 erreichte es den Nordpol. Bild: Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath

Normalerweise wachsen unter dem arktischen Eis Unmengen an Eisalgen. Sie bilden sich im flacheren Schelfmeer vor Sibirien und treiben mit den Schollen Richtung Arktis. Doch bei ihrer Arktis-Expedition im September 2023 finden die Forschenden keine Spur dieser Alge, die eine wichtige Nahrungsquelle für viele Meeresorganismen ist. Die Expeditions-Crew geht den Ursachen auf den Grund.

Es ist noch nicht einmal ganz vorbei, doch schon jetzt ist 2023 ein Jahr der dramatischen Klimarekorde. Der Sommer war weltweit der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch das Jahr als Ganzes ist derzeit klar auf Rekordkurs. Rekordhitze in den Ozeanen, Rekordschmelze von Gletschern, Rekordminimum der Meereisbedeckung auf der Südhalbkugel in der Antarktis. Dazu kommen beispiellose Extremereignisse: Gigantische Waldbrände in Kanada und Sibirien. Brennende Landschaften auch in den Urlaubsregionen des Mittelmeers. Und tödliche Unwetter und Flutkatastrophen wie in Libyen.

Fünf Expeditionsteilnehmer:innen laufen in ihren roten Anzügen über die arktische Eisschollenlandschaft. Bild: Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath

Und die Arktis?

Auch im hohen Norden, dem eisbedeckten Ozean rund um den Nordpol, sah es noch im Frühjahr nach einem neuen Negativrekord aus. Doch als der Forschungseisbrecher Polarstern nun von der Expedition Arcwatch-1 aus dem arktischen Eis nach Bremerhaven zurückkehrte, hatte die wissenschaftliche Crew überraschende Ergebnisse im Gepäck. So schmolz das Meereis des zentralen Arktischen Ozeans im Laufe des Sommers nicht so weit ab wie erwartet. Die minimale Bedeckung, die hier immer im September erreicht wird, lag 2023 bei 4,33 Millionen Quadratkilometern. Damit war die Fläche zwar kleiner als im Vorjahr (5,03 Millionen Quadratkilometer), lag aber deutlich über dem bisherigen Rekordwert von 2012 (3,48 Millionen Quadratkilometer). Zudem war das Eis auch etwas dicker als in den Jahren zuvor und die für den Sommer sonst so typischen Schmelztümpel an der Oberfläche fehlten. Stattdessen war das Meereis fast überall von einer ungewöhnlich dicken Schneeschicht bedeckt, die das Eis wohl vor der Wärme von Sonne und Atmosphäre und damit vor einem verstärkten Abschmelzen geschützt hat. Und noch mehr war ungewöhnlich in der Arktis 2023. 

Die Wissenschaftler:innen ziehen Eiskerne, vermessen sie und dokumentieren die gemessenen Werte. Bild: Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath

„Wir haben uns wirklich verwundert die Augen gerieben und uns die ganze Zeit gefragt: Was ist hier eigentlich los?“, sagt Expeditionsleiterin Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Fast zwei Monate war sie mit 53 Forschenden und 43 Besatzungsmitgliedern aus 15 Ländern an Bord der Polarstern im Hohen Norden unterwegs, um den aktuellen Zustand der Arktis zu ermitteln. Der Eisbrecher legte dabei 5.311 Seemeilen zurück – eine Strecke von Hamburg bis zum Kap Agulhas an der Südspitze Afrikas – und machte an neun „Eisstationen“ halt, um auf, im und unter dem Meereis bis zum Grund der Tiefsee jedes Stockwerk des arktischen Ökosystems genau zu erkunden. Eine dieser Stationen war dabei auch der geographische Nordpol.

Antje Boetius (Mitte), Direktorin des AWI, betrachtet mit der Expeditions-Crew Bilder vom Meeresboden, die das OFOBS (Ocean Floor Observation and Bathymetry System) filmt und fotografiert. OFOBS wird über den Grund geschleppt und zeichnet dabei Fotos und Videos auf. Bild: Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath

„Besonders erstaunt hat uns die Eisunterseite“, erklärt Antje Boetius. „Normalerweise gibt es hier Unmengen von Eisalgen, vor allem Melosira arctica, die meterlange Ketten bildet, die tief hinab in den Ozean hängen. In diesem Jahr aber war das Eis an allen untersuchten Stationen praktisch tot. Die Algen fehlten völlig. Und damit auch der Export von Nahrung in die Tiefsee.“ Statt auf den typischen „Meeresschnee“ aus abgestorbenen Algen trafen die Forschenden bei ihren Untersuchungen mit Unterwasser-Robotern unter dem Eis auf Schwärme von Manteltieren, kleinen Krebsen und Flügelschnecken. „Die Eisalgen sind eine wichtige Nahrungsquelle für das gesamte arktische Ökosystem. Im Jahr 2012 bei der bisher größten Eisschmelze lagen sie in großen Klumpen am Tiefseeboden. Ein Festmahl für Bakterien, Borstenwürmer und Seegurken“, sagt die Meeresbiologin. „Deren Spuren sahen wir auch noch überall. Aber nach zwei Jahren anormaler Eisdrift fehlen nun die Einträge von Algenklumpen am Meeresboden. Das ist eine enorm schnelle Änderung vom Meereis bis in die Tiefsee.“

So hängen die einzelligen Eisalgen von den sie tragenden Eisschollen in das Meerwasser herab. Bei der jetzigen Expedition fanden die Forscher:innen von der Alge keine derartigen Spuren. Foto: Alfred-Wegener-Institut/Julian Gutt

Was also war los in der Arktis 2023? Mithilfe von Satellitendaten konnten die Forschenden den Ursprung des diesjährigen Eises rekonstruieren. Normalerweise bildet sich das Eis im flacheren Schelfmeer vor der sibirischen Küste und treibt dann mit der sogenannten Transpolardrift in die zentrale Arktis und in Richtung des europäischen Nordmeers. Anders in diesem Jahr. Eine Kette von ungewöhnlich stabilen Tiefdruckgebieten hielt das Eis vor Sibirien im Sommer zusammen. Stattdessen drifteten Schollen aus dem kanadischen Becken in die zentrale Arktis. Diese entstanden also nicht im flachen Schelfmeer, sondern auf dem offenen Ozean. Antje Boetius vermutet, dass die ganz andere Ursprungsregion des Eises auch der Grund für den fehlenden Algenwald unter dem Eis ist. Denn Melosira arctica ist ein typischer Bewohner der flachen arktischen Schelfmeere. Ob die Anomalie der Transpolardrift sich wiederholen kann und wie die Arktis in den nächsten Jahren auf den beginnenden El Niño und die enorme Wassererwärmung im Atlantik reagieren wird, ist noch unklar. 

Neben diesen, eher besorgniserregenden Erkenntnissen gab es auf der Expedition aber auch immer wieder schöne und begeisternde Erfahrungen. So entpuppte sich ein bislang unkartierter Seeberg als wahrer Hot-Spot der Biodiversität. Mit den Unterwasserkameras filmte die Crew hier ausgedehnte Gärten aus Schwämmen, riesige orangefarbene Seeanemonen und immer wieder auch den rosafarbenen „Dumbo“-Oktopus, der mit seinen ohrenartigen Seitenflossen an den kleinen Elefanten aus dem Zeichentrickklassiker erinnert. Außerdem konnten die Forschenden auch klären, wer nun eigentlich der typische Bewohner des Nordpols ist.

Mit ihren Unterwasserkameras filmte die Crew auch diese von Schwämmen umgebene Seeanemone. Bild: Alfred-Wegener-Institut / OFOBS

„Die Eisstation und die Tiefseeforschung am Nordpol waren natürlich für Alle etwas Besonderes“, sagt Antje Boetius. „Da der nördlichste Punkt der Erdachse nicht so einfach zu erreichen ist, wissen wir wenig darüber, wer ihn in über 4.000 Meter Wassertiefe unter dem Eis eigentlich bewohnt. Unsere ersten Auswertungen zeigen: Hier lebt der Igelwurm, ein geradezu mythisches Wesen, das selbst hartgesottene Meeresforschende zum Schmunzeln bringt.“ Der Wurm ist etwa 20 Zentimeter lang, versteckt sich im Meeresboden und fährt regelmäßig seine bis zu zwei Meter lange Zunge aus, mit der er in einer großen Kreisbewegung Nahrungspartikel vom Tiefseeboden leckt.

„Das Tier sieht aus wie ein Alien“, erklärt die AWI-Direktorin. „Doch die Tiefsee ist kein fremder und weit entfernter Planet. Unsere Expedition hat gezeigt, dass sich Veränderungen an der Oberfläche binnen kürzester Zeit auch am Meeresgrund auswirken. Eine Wetteranomalie hat 2023 zu einem anderen Geburtsort des arktischen Meereises geführt, was wegen fehlender Eisalgen nun wohl einen Nahrungsmangel zur Folge hat. Das Meereisminimum im September war zwar kein neuer Negativrekord, liegt aber voll im Trend von circa 13 Prozent Meereisverlust pro Dekade. Zusammen mit den raschen Verlusten von Masse beim Eisschild Grönlands und dem Tauen des Permafrostes müssen wir einsehen, dass schon deutlich unter einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad Celsius massive Auswirkungen für das Ökosystem Arktis und seine Menschen zu verzeichnen sind.“ 

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