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Klimawandel

1,5 Grad-Ziel könnte schon in den nächsten Jahren überschritten werden

Ein Bach voller Schmelzwasser bahnt sich seinen Weg über den Grönländischen Eisschild. Bild: Ian Joughin/imaggeo.egu.eu

Im Pariser Klimaabkommen hat sich die Weltgemeinschaft darauf verständigt, die Erderwärmung auf höchstens 1,5 Grad zu begrenzen. Ein neuer Bericht der Welt-Meteorologieorganisation (WMO) geht davon aus, dass dieser Wert schon bis 2026 überschritten werden könnte.

Die Welt-Meteorologieorganisation (WMO) hat einen neuen Klimabericht veröffentlicht und warnt erneut vor dem Überschreiten der 1,5 °C-Schwelle. Demnach könnten die Durchschnittstemperaturen schon in den nächsten fünf Jahren zeitweise die Marke von 1,5 Grad überschreiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies in den nächsten fünf Jahre mindestens einmal passiere läge bei 50 %. Der Wert von 1,5°C sei ein Indikator für den Punkt, an dem die Klimaauswirkungen für die Menschen und den gesamten Planeten zunehmend schädlich werden. Die WMO unterfüttert diese Befunde mit aktualisierten Zahlenwerten. Was bedeutet der Bericht und wie ergänzt er sich mit denen des Weltklimarates (IPCC)? Wir sprachen mit Hans-Otto Pörtner vom Alfred Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft. Pörtner arbeitet seit Jahren als Leitautor an den Berichten des IPCC mit.

Herr Prof. Pörtner, was unterscheidet den aktuellen WMO-Bericht von der gerade erst erschienenen Studie des IPCC ?

Die WMO hat eine internationale Arbeitsgruppe aus elf Klimaforschungsarbeitsgruppen, die über die Berichte des IPCC hinaus jährlich eine Aktualisierung herausgibt, wieweit die Prognosen des IPCC zutreffen und wie sich die nähere Zukunft entwickeln wird. Es handelt sich um ein jährliches update, ergänzend zu den IPCC-Studien.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Jahre zwischen 2022 und 2026 das wärmste Jahr seit Beginn moderner Wetteraufzeichnungen wird, gibt die WMO mit 93% an. Ebenfalls mit 93-prozentiger Wahrscheinlichkeit wird der Fünf-Jahres-Durchschnitt für 2022 bis 2026 über dem Wert der der letzten fünf Jahre von 2017 bis 2021 liegen. Wie kommen solche Prozentzahlen zustande?

Die aktuelle Prognose, dass wir in den nächsten fünf Jahren ein Jahr sehen werden, das im Durchschnitt 1,5 Grad globale Erwärmung erreicht oder überschreitet, ist letztlich eine Aussage, die aus Klimamodellen kommt, die solche Wahrscheinlichkeiten unter Berücksichtigung der vorhandenen Klimaschwankungen hinreichend genau berechnen können. Und diese Wahrscheinlichkeit beträgt 50%. Was diese Aussage bedeutet: wir nähern uns mit der globalen Erwärmung diesem Schwellenwert von 1,5 Grad. Das heißt auch, dass wir die Schwelle, sobald wir uns immer näher darauf zu bewegen, dann mit immer höherer Wahrscheinlichkeit punktuell überschreiten, und zwar im globalen Mittel.

Sie haben den IPCC-Sonderbericht zu 1,5 °C koordiniert. Wie kam es zu diesem Sonderbericht?

Der Bericht entstand seinerzeit aus einer Einladung der UNFCCC-Klimarahmenkonvention, weil für Szenarien unter 2 °C-Erwärmung nicht genug Kenntnisse vorlagen. Diese Lücke sollte geschlossen werden. Die Einladung wurde auf der Pariser Konferenz 2015 ausgesprochen und der IPCC hat sie für den 6. Berichtszyklus angenommen. Es war insofern ein erfolgreiches Unterfangen, weil erstmals versucht wurde, 1,5 °C zu berechnen und auszuwerten. Wir haben einen Vergleich der Szenarien für 1,5 und 2 °C Erderwärmung gemacht und waren selbst sehr erstaunt, wie groß die Unterschiede zwischen diesen Szenarien sind und wie stark der numerisch scheinbar kleine Unterschied in den Auswirkungen zu Buche schlägt.

Die Zahl, um die sich alles dreht: 1,5 °C. Der WMO-Generalsekretär Petteri Taalas sagt: „Die Zahl von 1,5 °C ist kein zufälliger statistischer Wert. " Was ist damit gemeint?

Hans-Otto Pörtner ist Leiter der Abteilung für Integrative Ökophysiologie am Alfred Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Er arbeitete an diversen Berichten des IPCCs mit. Er war Leitautor und koordinierender Leitautor beim Vierten und Fünften Sachstandsbericht des IPCC. Er ist seit 2015 Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe II des IPCC, die sich mit den Auswirkungen des Klimawandels, den Verwundbarkeiten von Natur und Mensch und den Anpassungsmöglichkeiten beschäftigt. Im AR6 wirkte er in leitender Funktion am Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung, dem Sonderbericht über Klimawandel und Landsysteme und dem Sonderbericht über die Ozeane und die Kryosphäre (SROCC) mit. Er ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften sowie des WBGU. Bild: AWI

Das Ziel, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad begrenzen zu wollen, leitet sich daraus ab, dass man sich die Auswirkungen des Klimawandels umfassend angeschaut hat. Eine Koalition der Willigen unter Führung der kleinen Inselstaaten hatte die Verschärfung des Klimaziels in Paris eingebracht: nicht nur einfach 2 °C, sondern deutlich darunter bleiben mit dem Ziel, 1,5 °C Erwärmung nicht überschritten werden. Im Sonderbericht zu 1,5 °C haben wir die Ergebnisse mit den anderen IPCC-Arbeitsgruppen zusammengeführt, von der globalen Erwärmung und deren Auswirkungen bis hin zu den Möglichkeiten, den Klimawandel einzugrenzen unter der übergreifenden.

Welche Szenarien sind erforderlich, um 1,5 °C zu halten?

Unser Bericht und auch die Aktualisierung durch die WMO zeigen: wir stehen auf der Kippe. Wir sehen, dass die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse sehr träge sind. Es macht uns Sorgen, dass diese numerischen Klimaziele von der Politik nicht ernst genug genommen werden. Aus der Risikobewertung, die wir im Sachstandsbericht der IPCC-Arbeitsgruppe II Ende Februar/Anfang März dieses Jahres verabschiedet haben, kann man sehr genau ersehen, dass wir mit dem Überschreiten von 1,5 Grad die obere Grenze unseres „Normalbereiches“ überschreiten.

Das AWI hat mit der MOSAiC-Expedition beunruhigende Information aus der Arktis mitgebracht. Auch die WMO sieht in ihrem Bericht dramatische Entwicklungen nördlich des Polarkreises. „Was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis“ lautet ein geflügeltes Wort aus dem AWI. Was geschieht im hohen Norden, und wie betrifft es uns in Europa?

Wir sehen eine zunehmende Destabilisierung der Meereisbedeckung und eine Abnahme in der Fläche. Wir sehen eine Veränderung in den Ökosystemen, in der Plankton-Aktivität, in der Tierwelt. Der Trend der abnehmenden Meereisbedeckung wird dazu führen, dass die Rückstrahlung der Wärme von der weißen Oberfläche abnimmt und sich dadurch dieses Meeresgebiet stärker erwärmt. Letztendlich hat dies auch klimatische Auswirkungen. Bekannt ist die durch den Klimawandel veränderte Zirkulation in der Hochatmosphäre, der Jetstream, der Lage und Verlagerungsgeschwindigkeit der Wettersysteme steuert. Auf der Nordhalbkugel hängen sich Hoch- oder Tiefdruckgebiete oft ein und kommen nicht voran. Es resultieren Hitzewellen weltweit mit Tausenden von Toten, warme Arktiswinter und Kältewellen in Nordamerika, aber auch Dürren und Sturzfluten in unserer Region. Dies zeigt uns, dass da längst ein globaler Wandel des Erdklimas in Gang gesetzt wurde.

Für das Jahr 2022 soll das periodisch auftretende Klimaphänomen La Niña den globalen Temperaturmittelwert geringfügig absenken. Mit La Niña geht üblicherweise verstärkte Trockenheit in Südwesteuropa und im Südwesten von Nordamerika einher, wo bereits heute Dürre herrscht. In Nordeuropa und in Australien hingegen sehen die WMO-Fachleute feuchtere Bedingungen als im langjährigen Mittel voraus. Müssen wir uns an brennende Wälder in Spanien und Kalifornien und Hochwasser in Australien gewöhnen?

Wir haben in der Tat steigende Feuerrisiken. Waldbrände sind zunächst einmal natürliche Ereignisse, aber die Intensität und die betroffene Fläche nimmt zu. In Australien haben wir gewaltige Flächenvernichtung durch Feuer gesehen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die natürliche Umwelt und mit dem Tod von Millionen, Milliarden von Tieren. Das sind Ausmaße, die wir ohne den Klimawandel so nicht bekommen hätten. Das gilt auch für andere Regionen. Zunehmende Dürre, die Ungleichverteilung von Niederschlägen wird ebenfalls fühlbar, teilweise saisonal verstärkt.

Wenn wir vom Klima reden, sprechen wir von meteorologischen Mittelwerten. Die WMO hat dafür einen Mittelungszeitraum von 30 Jahren festgelegt. Seit zwei Jahren gilt die Periode 1991 – 2020 als Referenzperiode. Ist das ein passendes Maß?

Wir haben im IPCC eine Referenzperiode, die wir als vorindustriell bezeichnen und wo wir uns auf 18501900 beziehen, wenn wir vom Ausmaß der Erderwärmung sprechen. Diese Referenzperiode behalten wir bei. Aber als Biologe blicke ich auch auf die viel größere Zeitskala der Evolution. Woran ist das Leben auf der Erde angepasst und welche Variabilität hat das Leben in den, sagen wir mal, letzten 800 000 Jahren gehabt, wo wir einen regelmäßigen Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten hatten? Wichtig ist dabei die Periode des Holozän, die letzten 11.000 bis 12.000 Jahre, in denen sich die menschliche Zivilisation entwickelt und sich unsere Spezies über den ganzen Globus ausgebreitet hat. Wir sehen jetzt als Auswirkungen des von uns erzeugten Klimawandels, dass wir das Holozän verlassen. Dadurch verlieren wir Lebensraum für die Natur, und damit auch für den Menschen.

Sie haben in leitender Funktion an verschiedenen Berichten des Weltklimarates IPCC mitgearbeitet. Der aktuelle Bericht der WMO beschreibt Klima hauptsächlich als Atmosphärenthema. Am AWI leiten Sie die Abteilung für Integrative Ökophysiologie. Ihre Arbeit macht deutlich, dass es in der Klimakrise nicht nur um Atmosphärenwissenschaft geht. Wäre Nachhaltigkeitskrise nicht der bessere Begriff zur Beschreibung einer umfassenden Bedrohung, vor der wir stehen?

Wir müssen uns als Teil des Systems Erde verstehen. Klima ist nicht nur Atmosphäre, Wasser und Eis, sondern auch Biosphäre und Böden. Alle diese Teilsysteme kippen im Moment aus der Balance. Was mir als Physiologe vor allem Sorge macht, ist die ausweglose Exposition gegenüber extremen Temperaturen, die letztendlich, auch wenn das nur zeitlich begrenzt passiert, einen Lebensraum unbewohnbar machen kann für Tier, Pflanze und Mensch. Dieser Planet ist durch ein zuträgliches Klima für die lebendige Natur gekennzeichnet, sonst hätte sich Leben hier nicht entwickelt und es sähe aus wie auf dem Mars. Wir haben es in der Hand, unsere natürliche Umwelt so zu gestalten, dass unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben.

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