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Interview

„Mikroorganismen besitzen Fähigkeiten, die kein anderer Organismus erreicht“

Bild: pixabay / Raman Oza

Unter allen Lebewesen bieten Mikroorganismen die mit Abstand größte Vielfalt auf unserem Planeten. Ein Ort, an dem diese Vielfalt erfahrbar wird, ist die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig. Der Wissenschaftliche Direktor Jörg Overmann verrät, was die Sammlung so besonders macht.

Herr Overmann, was ist die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen?

Wir sind diejenigen, die Mikroorganismen und Zellkulturen sichern und an andere Forscher weitergeben. Im Moment werden bei uns jedes Jahr gut 2.500 neue Kulturen hinterlegt. Im gleichen Zeitraum geben wir mehr als 43.000 Proben an ungefähr 10.000 Nutzer in 80 Ländern ab. Das sind häufig Bakterienkulturen, aber auch Pflanzenviren oder menschliche und tierische Zellkulturen. Mit Blick auf die Bakterien sind wir eine der beiden größten Sammlungen auf der Welt. Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Vielzahl unserer Bakterienarten. Bei uns können Sie heute Proben von rund 80 Prozent aller beschriebenen Bakterienarten erhalten. Das zeichnet uns gegenüber den anderen 600 registrierten Sammlungen auf der Welt aus.

Seit 2010 ist Jörg Overmann Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen und Professor für Mikrobiologie an der Technischen Universität Braunschweig. Bild: DSMZ

Und warum werden Mikroorganismen und Zellkulturen in so großem Stil gesammelt?

Wer mit Mikroorganismen arbeiten will, muss viel Aufwand betreiben. Denn Mikroorganismen kommen in der Natur in großen Gemeinschaften vor. Wollen Sie eine bestimmte Eigenschaft erforschen oder nutzen, sehen Sie zunächst die Eigenschaften des Gemischs dieser Mikroorganismen. Sagen wir, Sie suchen nach einem bestimmten natürlichen Stoff, der beispielsweise die Fettlöslichkeit von Waschmitteln verbessert und damit Tenside ersetzt. Dann brauchen Sie den speziellen Organismus, der diesen Stoff produziert. Den müssen Sie von den anderen abtrennen. Das ist sehr aufwändig, teuer und braucht viel Zeit – zwei Jahre oder mehr sind keine Seltenheit. Eine so gewonnene Kultur am Schluss wieder zu verlieren – zum Beispiel, weil Wissen oder Ausrüstung für eine Konservierung fehlen –, wäre ein herber Rückschlag. Deshalb gibt es öffentliche wissenschaftliche Sammlungen wie unsere. Wir sichern die Arbeit von Wissenschaftlern für die Zukunft. Und wir machen Forschern auf der ganzen Welt die Diversität von Mikroorganismen zugänglich.

Wie werden Mikroorganismen Teil Ihrer Sammlung?

Das ist ein sehr aufwändiger Prozess. Uns erreichen zwar vor allem Bakterien, die bereits isoliert sind. Aber wir testen trotzdem ausführlich, ob die Kulturen sauber sind. Das bedeutet, dass sie wirklich nur eine Art von Bakterien enthalten. Dann konservieren wir sie. Denn wir müssen verhindern, dass sie sich durch permanentes Wachstum im Labor genetisch verändern. Das passiert sehr schnell. Deshalb werden praktisch all unsere Kulturen tiefgefroren. Sind die Bakterien erneut bestimmt, verifiziert und konserviert, werden sie Teil der öffentlichen Sammlung.

Bild: pixabay / ar130405

Was müssen Sie beim Konservieren beachten, um die Probe nicht zu verlieren?

Die Kunst besteht darin, die Bakterien so zu konservieren, dass alle Lebensvorgänge und damit auch die genetischen Veränderungen gestoppt werden. Gleichzeitig muss die Zelle aber in einem lebenden Zustand erhalten bleiben. Dazu frieren wir den Organismus in flüssigem Stickstoff bei minus 150 Grad ein. Während das bei komplexen Organismen zwangsläufig zu irreversiblen Schäden führen würde, ist das bei einer einzelnen Zelle möglich. Denn aus dieser kann die Wärme sehr schnell abgeführt werden. Außerdem geben wir Frostschutzmittel dazu. Weil diese manchmal toxisch sind, muss die Probe schockgefroren werden, sobald sie mit dem Mittel in Berührung kommt. Und auch beim Auftauen müssen wir uns beeilen und die Frostschutzmittel schnell auswaschen. So erwecken wir die Organismen wieder zum Leben. Das bedeutet, wir können sie praktisch unbegrenzt vermehren. Wir haben es also mit lebenden Organismen zu tun – das unterscheidet uns von Totsammlungen wie Museen.

Sagen wir, ich interessiere mich für eine Ihrer Proben und möchte diese erwerben. Wie kommt sie aus Ihrer Sammlung in mein Labor?

Wenn eine Bestellung bei uns eingeht, wird die entsprechende Reinkultur verschickt. Mittlerweile kann man bei uns auch digital in einem Webshop bestellen. Aber selbstverständlich bekommt nicht jeder irgendwelche Bakterien. Unsere Kunden arbeiten in wissenschaftlichen Institutionen wie Universitäten oder Forschungslaboren, wo der fachgerechte Umgang mit Mikroorganismen gewährleistet ist, oder es sind beispielsweise Biologielehrer an Schulen. Bei bestimmten Bakterien brauchen wir alle erforderlichen Unterlagen, bevor wir eine Kultur herausgeben; insbesondere die Erlaubnis für die Tätigkeit mit Krankheitserregern nach dem Infektionsschutzgesetz. Das wird sehr engmaschig kontrolliert.

Dabei arbeiten Sie gar nicht mit den ganz gefährlichen Erregern.

Richtig. Das wäre mit den entsprechenden Labors und Experten natürlich theoretisch möglich. Aber es macht keinen Sinn. Denn einerseits ist es sehr teuer und andererseits gibt es so gut wie keine Abnehmerschaft. Die wenigen Einrichtungen auf der Welt, die mit Organismen der Risikogruppen 3 und 4 arbeiten, stellen ihre Isolate selbst her und bewahren sie bei sich auf.

Wir arbeiten mit Risikogruppe 1, den absolut ungefährlichen Organismen, und mit Risikogruppe 2, den schwach pathogenen, also krankheitserregenden Mikroorganismen. Diese leben oft sogar auf unserer Haut oder in unserem Körper, ohne uns krank zu machen, können aber unter bestimmten Bedingungen – etwa bei einem geschwächten Immunsystem oder einer tiefen, nicht sterilisierten Wunde – zu einer Erkrankung führen. Sie werden sehr häufig angefragt. Denn man kann gut mit ihnen arbeiten, ohne sich großen Gefahren auszusetzen. Dafür ist es aber erforderlich, dass die Labors über die entsprechende Umgangsgenehmigung verfügen. Um Betrug vorzubeugen, lassen wir diese Angaben der Kunden unabhängig durch die ausstellenden Behörden bestätigen. Das sind je nach Bundesland die Gesundheitsämter, Landratsämter oder Regierungspräsidien.

Biologische Risikogruppen

Mikroorganismen, mit denen in Backstube, Braukeller oder Labor gearbeitet wird, sind sogenannte Biostoffe. Die Biostoffverordnung regelt den Umgang mit ihnen. Dazu werden sie in vier verschiedene Risikogruppen eingeordnet.

Ist es unwahrscheinlich, dass ein Organismus eine Krankheit beim Menschen auslöst, zählt er zur Risikogruppe 1. Dazugehören beispielsweise nützliche Mikroorganismen wie Milchsäurebakterien oder Bäckerhefe, aber auch harmlose Bakterien, die die Haut besiedeln oder in der Luft vorkommen.

Mikroorganismen der Risikogruppe 2 hingegen haben das Potenzial, bei direktem Kontakt eine Krankheit auszulösen. Diese bleibt aber auf Personen beschränkt, die mit den Erregern umgehen und verbreitet sich nicht in der Bevölkerung. Außerdem lässt sich die Krankheit gut durch vorbeugende Maßnahmen verhindern oder wirksam behandeln. In diese Kategorie fallen beispielsweise einige Salmonellenarten, Herpesviren oder Schimmelpilze.

Die Krankheiten, die Mikroorganismen der Risikogruppe 3 hervorrufen, sind weitaus ernster und können sich in der Bevölkerung ausbreiten. Doch auch hier gibt es im Normalfall wirksame Präventionen oder Therapien. Der Milzbranderreger zählt ebenso dazu wie das Vogelgrippevirus oder das HIV-Virus. Auch das neuartige Coronavirus zählt vorläufig zu dieser Gruppe.

Mikroorganismen der Risikogruppe 4 sind imstande, schwerwiegende Erkrankungen hervorzurufen. Sich gegen diese zu schützen, ist in der Regel genauso wenig möglich wie sie wirksam zu behandeln. Der höchsten Risikogruppe gehören bisher nur Viren an – neben dem Erreger der Pocken sind das beispielsweise jene, die Ebola, Marburg- oder Lassafieber auslösen.

Welche Mikroorganismen haben Sie noch in Ihrer Sammlung?

Neben Bakterien haben wir mittlerweile auch über 6.000 Pilze. Dazu zählen einerseits die Hefen, die biotechnologisch sehr interessant sind. Aber auch Schimmelpilze, die unter bestimmten Bedingungen die Raumluft belasten können. Außerdem haben wir eine umfangreiche Sammlung von Pflanzenviren, die wichtige Nutzpflanzenkrankheiten hervorrufen. Dafür bieten wir mittlerweile auch Antikörper-Testkits an. Das heißt, wenn der Zoll eine Pflanzenlieferung stoppt, kann er sofort testen, ob diese von gefährlichen Viren befallen ist.

Außerdem lagern in unseren Sammlungen menschliche und tierische Zellkulturen – insbesondere eine praktisch vollständige Sammlung aller bekannten Lymphom-Leukämiezellen. Wenn jemand diese Krebsform erforschen möchte, sind wir eine wichtige Quelle. Denn bei uns bekommt man nicht nur die Zelllinien, sondern auch viele bereits vorhandene Daten zu dieser Krebsart. Und wir haben gerade begonnen, Protisten zu sammeln, dazu gehören die bekannten Pantoffeltierchen und Algen. Deren Sammlung ist sehr anspruchsvoll, da die Konservierung häufig nicht richtig funktioniert. Da müssen wir richtig neue Wege gehen.

Die Vielfalt der Mikroorganismen

Bakterien sind einzellige Lebewesen ohne abgegrenzten Zellkern. Die kleinsten bekannten Arten messen nur gut 100 Nanometer, während die größten mit 0,7 Millimetern sogar für das bloße Auge sichtbar sind. Der Mensch wird von zehnmal mehr Bakterien besiedelt als er eigene Zellen besitzt. Neben harmlosen Bakterienarten gibt es nützliche, die beispielsweise die Verdauung unterstützen, und schädliche, die Krankheiten hervorrufen. Bakterien sind zum Beispiel für die Essigsäureproduktion oder für Arzneimittel interessant.

Auch Archaeen sind einzellige Lebewesen ohne abgegrenzten Zellkern. Viele Archaeen lieben das Extreme: sie gedeihen im kochenden Wasser irdischer Geysire, lieben eine Umgebung, die so sauer ist wie Batteriesäure oder widerstehen mühelos den eisigen Temperaturen an den Polen. Bisher wurden noch keine Archaeen gefunden, die beim Menschen eine Krankheit hervorrufen. Dafür können sie zum Beispiel für die Biogassynthese, die mikrobielle Metallgewinnung aus Erzen oder als Biosensoren eingesetzt werden.

Die Pilze bilden ein eigenes Reich unter den Lebewesen mit abgegrenzten Zellkern. Sie sind ortsfest wie Pflanzen, können aber keine Photosynthese betreiben und brauchen deshalb organische Nahrung wie Tiere. Einige von ihnen können Krankheiten verursachen, andere wie Back- und Brauhefen begleiten den Menschen schon seit Jahrtausenden. Und wieder andere stellen antibiotische Substanzen her und haben die Medizin revolutioniert. Pilze können beispielsweise biobasierte Basischemikalien produzieren, die bisher auf Erdöl basieren.

Protisten bestehen aus einer oder wenigen miteinander verbundenen Zellen, von denen jede einen Zellkern besitzt. Einzellige Flagellaten mit ihren peitschenähnlichen Auswüchsen gehören ebenso dazu wie Amöben, Wimperntierchen oder gepanzerte Kieselalgen. Als Forschungsobjekte für Fragen rund um die grundlegenden Funktionen des Lebens sind Protisten gut geeignet. Und nur eine Handvoll von ihnen ist bisher als Krankheitserreger für den Menschen bekannt.

Viren hingegen werden gemeinhin nicht als Lebewesen angesehen, denn ein Virus besteht lediglich aus Erbinformationen. Ihm ist es also nicht möglich, eigenständig Stoffwechsel zu betreiben oder sich zu vermehren. Dazu ist es stets auf eine Wirtszelle angewiesen. Haben sie diese erst einmal infiltriert, können sie ihre Vermehrung aber steuern und sich durch evolutionäre Prozesse weiterentwickeln. Viren befallen nicht nur höhere Lebewesen wie Mensch, Tier oder Pflanze, sondern auch Pilze, Bakterien und Archaeen. Sehr oft werden sie mit Krankheit und Tod gleichgesetzt. Doch die moderne Medizin nutzt heute Viren, um antibiotikaresistente Bakterien unschädlich zu machen, Impfstoffe herzustellen oder Krebszellen zu töten.

Entwickeln Sie auch selbst Konservierungsverfahren?

Ja, das ist Bestandteil unserer Forschungstätigkeit. Und daran sehen Sie auch, dass sich unsere Arbeit nicht in der Lagerung von bakteriengefüllten Ampullen erschöpft. Sie hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Dazu gehören neben unseren Tests und Services auch gezielte Forschungsprojekte. Und dafür brauchen wir Wissenschaftler. Denn das lässt sich ohne wissenschaftlichen Anspruch nicht leisten. Solche Verfahren zu verbessern oder überhaupt erst zu ermöglichen, gehört zu unseren Aufgaben.

Sie forschen schon sehr lange an Mikroorganismen. Was fasziniert Sie persönlich am meisten daran?

Mikroorganismen, vor allem Bakterien, hatten viel mehr Zeit als alle anderen Lebewesen, um sich zu entwickeln – fast vier Milliarden Jahre. Das heißt, Mikroorganismen bieten ein Spektrum an Funktionen und Fähigkeiten, die kein anderer Organismus erreicht. Tiere zum Beispiel sind biochemisch eigentlich relativ langweilig. Denn sie haben über alle Arten hinweg sehr viele Gemeinsamkeiten. Schauen Sie hingegen fünf verschiedene Bakterien an, wird es interessant. Die können Dinge tun, zu denen kein höherer Organismus in der Lage ist. Warum schaffen sie das? Warum entwickeln sich Mikroorganismen auch heute noch so schnell? Und wie kann man das nutzen? Das sind Fragen, die mich sehr interessieren. Außerdem ist das Forschungsfeld noch immer sehr offen. Denn 99,99 Prozent der Organismen in der mikrobiellen Welt, die uns umgibt, sind noch nicht verstanden. Dieses riesige Potenzial fasziniert mich.

Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ)

Vom Gemisch zur Reinkultur

Die Welt ist voller Mikroorganismen. Die Spannweite ist riesig und reicht von Archaeen und Bakterien über Pilze bis Protisten. Dabei sind die allermeisten noch nicht entdeckt: Von den schätzungsweise 1,8 Milliarden Arten, von denen Experten ausgehen, sind bisher nur gut 16.000 beschrieben. Allein in einem Fingerhut voll Erde tummeln sich schätzungsweise 50.000 verschiedene Arten. Eine davon auszuwählen, gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Für Forschung, Entwicklung oder biotechnologische Anwendung braucht es jedoch oft nur einen einzigen Vertreter aus dem „Zoo“ der Mikroorganismen.

Der Trick besteht darin, aus dem Gemisch von Mikroorganismen eine einzelne Zelle von den anderen abzutrennen. Das funktioniert mit bestimmten Verdünnungen in Flüssigmedien oder auf Agarplatten – also Petrischalen, die Agar und Nährstoffe enthalten. Die Zelle teilt sich und bildet mit ihrer Nachkommenschaft eine Kolonie, die anschließend erforscht werden kann. Denn diese Zellen sind weitestgehend erbgleich und verfügen über dieselben Eigenschaften.

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