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Technologietransfer

Marktreifes Produkt aus dem Teilchenbeschleuniger

Bild: DESY, Heiner Müller-Elsner

Der Röntgenlaser European XFEL enthält zehntausende technische Einzelkomponenten, die miteinander koordiniert werden müssen. DESY-Forscher haben eine elektronische Steuerung  entwickelt, die auch für industrielle Anwendungen interessant ist.

Große Forschungsinfrastrukturen wie etwa Satellitensysteme, Fusionsforschungsanlagen oder der Europäische Röntgenlaser European XFEL sind hochkomplexe, technisch anspruchsvolle und einmalige Anlagen. So beinhaltet das 5,8 Kilometer lange Tunnelsystem des vor einem Jahr in Betrieb genommenen European XFEL zehntausende Komponenten, die akkurat und präzise gesteuert werden müssen: mehrere hundert sogenannte Beschleunigerstrukturen, die dafür sorgen, dass der Elektronenstrahl beschleunigt wird, Elektromagnete, die den Strahl akkurat führen und fokussieren, Diagnosekomponenten, die die Qualität und Eigenschaften des Strahls bestimmen und noch viele mehr.

Damit das Zusammenspiel dieses komplexen Komponenten-Orchesters funktioniert, wird ein kompetenter Dirigent benötigt: eine hochpräzise Steuerungselektronik. „Präzision ist bei einer solchen Anlage wirklich das oberste Gebot“, sagt Holger Schlarb, Leiter der Arbeitsgruppe Maschine Strahlkontrollen bei DESY. „So müssen zum Beispiel Abweichungen der Strahlausrichtung im Bereich von nur einem Millionstel Millimeter messbar und auch entsprechend fein nachjustierbar sein.“

Da die Planungsphase für den European XFEL acht Jahre vor seinem Start begann, mussten sich die DESY-Forscher bereits im Jahr 2009 für einen möglichst zukunftsträchtigen Elektronikstandard entscheiden. Vielversprechend erschien ihnen MicroTCA (Micro Telecommunications Computing Architecture), ein Elektronikstandard aus der Telekommunikationsbranche. „Bis dahin wurde er zwar noch in keinem Teilchenbeschleuniger verwendet, erfüllte aber viele wichtige Anforderungen wie etwa hohe Übertragungsbandbreiten, Verarbeitung großer Datenraten und Zuverlässigkeit", erklärt Schlarb. “Eines konnte MicroTCA aber noch nicht: analoge Signale präzise erfassen und verarbeiten.“ Doch das ist eine ganz entscheidende Funktion für die Elektronik eines Teilchenbeschleunigers. Denn viele verschiedene Sensoren messen unentwegt – beispielsweise Temperatur, Energie oder Position des Röntgenstrahls – und erzeugen Unmengen analoger Signale, die erfasst und weiterverarbeitet werden müssen.

Hochleistungselektronik maßgeschneidert

Holger Schlarb, Leiter der Arbeitsgruppe Maschine Strahlkontrollen. Bild: DESY, Lars Berg.

„Wir haben uns mit anderen Forschungsinstituten wie dem US-Beschleunigerzentrum SLAC, Partnern des EU-Fusionsforschungsprojekts ITER sowie Industriepartnern zusammengetan, um MicroTCA um die fehlende Funktion zu erweitern“, sagt Schlarb. „Unser Vorhaben war erfolgreich, und es wurde ein neuer Elektronikstandard namens MicroTCA.4 etabliert.“ Auf seiner Basis haben die DESY-Forscher dann eine für den Teilchenbeschleuniger maßgeschneiderte Steuerungselektronik entwickelt, mit der über hundert analoge Messparameter mehrere hundert Millionen Mal pro Sekunde ausgelesen werden können. In die Elektronik integriert ist ein Managementsystem, das Bedienung und Wartung auch aus der Ferne über Computer ermöglicht. Und MicroTCA.4 kann nicht nur in hochkomplexen Großanlagen eingesetzt werden, sondern auch in deutlich kleineren Geräten wie beispielsweise Spektrometern oder Videostreaming-Systemen. „Diese Eigenschaften machen MicroTCA.4 für viele Anwendungsgebiete in Wissenschaft und Industrie interessant, zum Beispiel in den Bereichen Industrieautomatisierung, Telekommunikation, Verkehrs- oder Medizintechnik“, sagt Schlarb. „Da lag der Gedanke natürlich nahe, mit MicroTCA.4 in Richtung Technologietransfer zu gehen.“ Konkrete Anwendungen ergeben sich vor allem da, wo hochauflösende Bilder und Messimpulse ähnlich schnell, präzise und sicher verarbeitet werden müssen wie in Beschleunigern, z.B. in der industriellen Qualitätskontrolle und in medizinischen Behandlungszentren, die mit strahlbasierten Therapien arbeiten.

Vom Grundlagenforscher zum Consultant

Für ihr Vorhaben erhielten die DESY-Forscher 2012 eine Förderung durch den Helmholtz-Validierungsfonds. Seitdem treiben Schlarb und sein Team gemeinsam mit der Abteilung Innovation und Technologietransfer von DESY den Einsatz von MicroTCA.4 in Industrieunternehmen voran. „Unsere Arbeit hat nun ganz neue Facetten: Wir sind häufig auf Messen unterwegs, halten Workshops und arbeiten jetzt mehr und mehr als Consultants“, sagt Schlarb. Im April dieses Jahres wurde bei DESY das MicroTCA Technology Lab eröffnet, eines von derzeit sieben Helmholtz Innovation Labs, in denen innovativen Technologien der Weg in die industrielle Anwendung geebnet werden soll. In einem Showroom und verschiedenen Workshops können sich Interessenten aus Industrie und Wissenschaft mit der neuen Technologie und ihren Möglichkeiten vertraut machen. So beraten die DESY-Forscher beispielsweise eine Firma beim Einsatz der MicroTCA-Steuerungselektronik in Druckmaschinen für Banknoten.

„Wir wollen Barrieren der Markteinführung abbauen und unterstützen beispielsweise mit Serviceleistungen oder in der Produktentwicklung“, sagt Thomas Walter, Leiter des MicroTCA Technology Labs. „In unseren sogenannten Ermöglichungsräumen erproben wir ganz neue Formen der Zusammenarbeit mit Partnern aus Industrie und Forschung und führen gemeinsame Projekte durch.“ Die Früchte der bisherigen Entwicklungsarbeit der DESY-Forscher können sich sehen lassen: Ein Patent, 18 Lizenzverträge sowie 20 marktreife Produkte. „Es ist toll, dass wir mit unserer Forschung bei DESY zum Technologietransfer beitragen können“, sagt Schlarb. „In der Industrie wird MicroTCA.4-Elektronik bereits erfolgreich eingesetzt, etwa zur Steuerung von Produktionsprozessen oder Überwachung von Anlagen.“ Und nicht zu vergessen: in einem funktionierenden Röntgenlaser European XFEL.

Helmholtz-Validierungsfonds

Mit demHelmholtz-Validierungsfonds werden seit 2011 Vorhaben unterstützt, die die Lücke zwischen Forschungsergebnissen und deren marktfähigen Anwendungen angehen. Jedes Jahr werden ca. drei bis sechs Projekte ausgewählt.  Die Bandbreite der geförderten Vorhaben reicht von Demonstratoren bis zu (prä)klinische Studien.

In den Helmholtz Innovation Labssind physische Orte, an denen wissenschaftliche Expertise sowie Bedürfnisse der Industrie und ihrer Kunden iterativ zusammengeführt werden. Hier entstehen langfristig "Ermöglichungsräume", in denen Ideen ausprobiert werden. Ihr Ziel ist es, Unternehmenspartner langfristig in gemeinsame Entwicklungsprojekte einzubinden. Dieser Kommerzialisierungsgedanke unterscheidet die Helmholtz Innovation Labs als "Think and Do Tanks" von reinen Forschungslaboren.

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