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Interview

"Das Denken lässt sich aus zwei Richtungen erkunden"

Onur Güntürkün forscht seit vielen Jahren an Tauben. An den Vögeln untersucht er, wie das Gehirn grundlegende Prozesse vollzieht: Wahrnehmen, Entscheiden, Lernen. Bild: C. Heinemann

Der Bochumer Gehirnforscher Onur Güntürkün erzählt über seine Versuche mit Tauben – und darüber, warum neben Medizinern und Biologen auch Psychologen nötig sind, um das Denken zu entschlüsseln.

Herr Güntürkün, wenn ein Schüler Sie fragt, was er studieren soll, wenn er alles über das Gehirn und das Denken erforschen will – würden Sie ihm zu Psychologie, Medizin oder Biologie raten? 

Definitiv zu Psychologie, ganz klar. 

Dann haben Sie selbst ja alles richtig gemacht, oder?

Als ich angefangen habe mit meinem Studium, war ich im ersten Semester enttäuscht, wie buchstäblich „hirnlos“ die damalige Psychologie war. Sie bestand aus einem Kanon sehr spannender Erkenntnisse über das menschliche Verhalten und Erleben. Aber die meisten Psychologen sahen keinen Bezug zwischen Psychologie und Gehirn.

Warum aber braucht man dann die Psychologie, um das Gehirn zu verstehen?

Das Denken lässt sich aus zwei Richtungen erkunden: Zunächst gibt es die Ebene, die ich abstrakt nenne und die wir in der Psychologie betrachten – da geht es um die Entdeckung der Mechanismen und Regelhaftigkeiten des Denkens. Und es gibt die zweite, die biologische Ebene: Wie wird das Denken im neuralen Substrat generiert? Ich nenne diese Unterscheidung gerne den trockenen Bereich und den nassen Bereich: Trocken bedeutet, dass ich mir die Hände als Psychologe nicht nass mache, während Biologen und Mediziner bei ihrer Arbeit am Gehirn häufig am nassen Substrat arbeiten.

Hat Sie selbst das Nasse nie gereizt?

Es gab tatsächlich eine Zeit in meinem Leben, in der ich dachte, alle Antworten lägen im nassen Bereich. Einige Jahre lang bin ich dorthin abgewandert und habe versucht, von den Synapsen aus, also dem kleinsten Teil ganz unten auf der neuronalen Ebene, das Denken zu entschlüsseln. Aber ich merkte, dass ich den Weg nie finden werde, wenn ich mich von den Synapsen aus Schritt für Schritt nach oben arbeite. Man muss das Denken gleichzeitig auf diesen zwei verschiedenen Ebenen analysieren, davon bin ich fest überzeugt. Und die Kombination dieser zwei Ebenen macht auch die Stärke der neurowissenschaftlichen Psychologie aus. Und genau daran, dass am Anfang von Neurobiologen die trockene Ebene für verzichtbar gehalten wurde, wäre fast das Human Brain Project gescheitert.

Tatsächlich?

Am Anfang war es so angelegt, dass die beteiligten Wissenschaftler sich auch von den Synapsen aus emporarbeiten wollten. Andere Forscher hielten diesen Ansatz für falsch – und sie hatten recht: Man braucht einfach beide Seiten, die nasse und die trockene. Wir müssen immer von den zwei Enden des Mentalen vorgehen. Wir müssen uns ergänzen. Jetzt sind übrigens beide Seiten im Human Brain Project enthalten, und nach meiner Überzeugung steigt damit die Chance auf einen Durchbruch.

Ist es eine neue Erkenntnis, dass beide Seiten zusammengehören?

Ganz neu ist sie nicht, aber ich kann schon im Verlauf meiner eigenen wissenschaftlichen Laufbahn eine Verschiebung erkennen. Am Anfang waren Psychologen auf großen Kongressen der Hirnforscher kaum präsent oder wurden nicht wirklich ernst genommen. Das hat sich grundlegend geändert. Wenn Hirnforscher heute in den großen Zeitschriften publizieren wollen, brauchen sie deutlich umfassendere Erklärungen; eine viel fundiertere Theorie, mit der sich die Teilaspekte zu einem größeren Bild kombinieren lassen. Sie müssen also in ihrer Forschung die verschiedenen Aspekte kombinieren können, und deshalb wächst der Wunsch, über die Disziplinen hinweg zusammenzuarbeiten. Ich merke das übrigens allein schon an den Bewerbern, die hier am Lehrstuhl mitarbeiten möchten: Sie sind heute fast alle hybrid und haben ganz selbstverständlich Kenntnisse aus den verschiedenen Bereichen der Hirnforschung.

Sie selbst arbeiten im Bereich der experimentellen Psychologie viel mit Tauben. Was genau machen Sie da?

Ein Kollege sagte einmal: Psychologen untersuchen weiche Fragen mit harten Methoden. Man könnte zum Beispiel fragen: Wie erkenne ich einen Gegenstand? Das ist eine weiche Frage, auf die man nicht sofort antworten kann. Aus dem Blickwinkel der experimentellen Psychologie kann man aber zuerst sehr viele Teilfragen stellen, die sich experimentell überprüfen lassen. Wir zerlegen die große Frage also in kleine Bausteine, die wir isoliert betrachten und umfassend experimentell untersuchen können.

Wie sehen solche Experimente aus?

Bei uns sitzen die Tauben in kleinen Kästchen, die auf einer Seite einen Bildschirm haben. Wir zeigen darauf zum Beispiel zwei Farben, Rot und Grün. Pickt die Taube auf Grün, wird es in dem Kästchen für zwei Sekunden dunkel, und das mögen Tauben gar nicht. Pickt sie hingegen auf Rot, bekommt sie Futter zur Belohnung. Nach einer Viertelstunde weiß die Taube, dass es eine gute und eine schlechte Farbe gibt. Sie hat also etwas gelernt, und wir lernen als Beobachter aus den Lernkurven, den Fehlern und vielen weiteren Parametern Details über das Lernen, über das Gedächtnis dieses Prozesses. Das ist natürlich ein banales Beispiel, unsere Experimente sind weit komplexer – aber das Prinzip ist immer das gleiche: Über solche einzelnen Aspekte gelangen wir immer tiefer in die Mechanismen des Denkens hinein.

Lassen sich solche Erkenntnisse denn von Tauben auf Menschen übertragen?

Ja, es gibt viele Anknüpfungspunkte. Gerade jetzt komme ich von einem Kolloquium, das wir hier am Lehrstuhl abgehalten haben. Was uns sehr beschäftigt, ist die Frage, warum Vögel es schaffen, mit einem sehr viel kleineren Gehirn sehr viel mehr zu leisten als Säugetiere. Vor einigen Jahren habe ich dazu eine große Forschungsreihe gestartet, in der wir untersuchen, wie Wissen in unserem Gehirn repräsentiert ist – und was überhaupt das Wissen ist. Haben größere Gehirne mehr Wissen, weil sie über mehr Synapsen verfügen? Wie ist überhaupt Information kodiert? Und da haben wir aufsehenerregende Ergebnisse erzielt.

Aber ist das noch psychologisch?

Ja, natürlich! Jetzt fragen Sie übrigens wie die Psychologen vor 30 Jahren. Unsere Probanden kreuzen Antworten in Tests an, füllen Fragebogen aus und legen sich dabei in den Scanner, sodass wir rekonstruieren können, wie Detailstrukturen des Gehirns mit Wissen im Zusammenhang stehen. 

Trotzdem ist das Wissen um die Funktionsweisen des Gehirns ja noch sehr überschaubar. Glauben Sie, dass es sich eines Tages entschlüsseln lässt?

Aber klar! Letztlich ist es ein Organ, und das werden wir verstehen, auch wenn es noch sehr lange dauern wird. Uns drängt ja nichts: Wir haben Zeit genug für die Forschung. Ständig wachsen neue Generationen von neugierigen Forschern heran. Das ist unser großer Vorteil. 

Onur Güntürkün wurde in Izmir (Türkei) geboren und studierte nach dem Abitur Psychologie in Bochum. Nach Stationen in Paris, San Diego und Konstanz kehrte er 1993 mit nur 35 Jahren als einer der jüngsten Professoren an die Ruhr-Universität Bochum zurück. Für seine Forschung über die biologischen Grundlagen des Denkens wurde er vielfach ausgezeichnet: unter anderem mit dem Leibniz-Preis 2013 und dem Communicator-Preis 2014.

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