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Unterwasser-Observatorium

Der Krimi von Boknis Eck

Verschwunden - Drei Sensoren des Observatoriums bei Boknis Eck lieferten wichtige Daten, um Veränderungen in marinen Ökosystemen zu erkennen. Bild: Forschungstauchzentrum der CAU

In der Eckernförder Bucht steht in 14,5 Metern Tiefe eine Unterwasserstation des GEOMAR und sendet jahrelang zuverlässig Daten zum Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung nach Kiel. Doch plötzlich fehlt von ihr jede Spur – und Forscher, Spezialtaucher und Kriminalpolizei stehen vor einem Rätsel.

Es war kein stürmischer Tag, als das Herzstück von Boknis Eck verschwand. Es war kein Marineschiff weit und breit, weder über noch unter Wasser. Kein Fischerboot fuhr durchs Sperrgebiet an der Ostseeküste am Eingang der Eckernförder Bucht, da, wo sich in der letzten Eiszeit vor gut 100.000 Jahren eine Gletscherzunge 17 Kilometer tief ins Land gearbeitet hatte. Es war alles still und leise an jenem sommerlichen 21. August, als das Observatorium um 8.15 Uhr plötzlich aufhörte zu senden.

Boknis Eck ist Forschern aus aller Welt ein Begriff: Seit 1957 werden in der Eckernförder Bucht zwei Kilometer vor der Küste grundlegende Daten über das marine Ökosystem erhoben. Im monatlichen Turnus messen Wissenschaftler des GEOMAR - Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel den Salzgehalt, die Temperatur und die Konzentrationen von Sauerstoff, Nährstoffen und Chlorophyll sowie klimarelevante Spurengase wie Lachgas und Methan. Im Jahr 2016 erweiterten die Kieler in Zusammenarbeit mit dem Helmholtz-Zentrum Geesthacht Zentrum für Material- und Küstenforschung (HZG) ihre alte Messstation um das Unterwasserobservatorium „Boknis Eck-Knoten“, das seine Ergebnisse per Glasfaserkabel in Echtzeit an eine Landstation sendet; ein wichtiger Schritt, um die Messdaten zu vervollständigen.

„Nicht etwa die Stecker sind schuld. Ein Großteil der Station ist weg!“

„Da hat sich sicher mal wieder eine Verbindung gelockert“, denkt Projektleiter Hermann Bange, als der Kontakt zum Observatorium plötzlich abriss. Der Professor für Marine Biogeochemie koordiniert seit 2010 die Aktivitäten in Boknis Eck und war verantwortlich für den Aufbau der Station. Er kontaktiert die Forschungstaucher der Universität Kiel, bittet sie, unter Wasser die empfindlichen Verbindungen zu prüfen. Eine Woche später macht sich das Forschungsschiff Littorina auf den Weg nach 54°31.2' N, 10°02.5' E. Vier Forschungstaucher gehen ins Wasser, sie rechnen damit, die Sensoren zu warten. Doch sie entdecken etwas völlig anderes: „Nicht etwa die Stecker sind schuld“, stellte Roland Friedrich fest, der Ausbildungsleiter des Forschungstauchzentrums an der Kieler Universität: „Ein Großteil der Station ist weg!“ Die Sicht ist hier in fast 15 Metern Tiefe sehr eingeschränkt, nur 20 Zentimeter weit können die Taucher sehen. Sie suchen in der näheren Umgebung. Nichts.

Forscher Hermann Bange kann nicht glauben, was ihm die Taucher fotografisch belegen: Die Kabel sind abgerissen, es fehlen zwei Gestelle des 300.000 Euro teuren Unterwasser-Observatoriums. Die zwei verschwundenen Elemente wiegen zusammen 770 Kilogramm, sind mit vielen teuren Sensoren ausgestattet. Dass die Station einfach verschwinden könnte, hatten die Forscher nicht für möglich gehalten. Sie war in den Boden eingelassen, fest verankert und so schwer wie ein Kleinwagen. 

Anfang 2017 wurde der Boknis-Eck-Knoten installiert, um permanent Messwerte zu erfassen. Bild: Forschungstauchzentrum der CAU

„Was es bedeutet, dass das Observatorium weg ist, wurde uns ziemlich schnell klar“, sagt Hermann Bange. Er dachte zunächst an die vielen Masterarbeiten, die nun nicht geschrieben werden können. Und dann an die Bedeutung für das große Ganze: „Ein kontinuierliches Messsystem lebt vom kontinuierlichen Messen“, sagt er resigniert. Die Station war Teil des Coastal Observing System for Northern and Artcic Seas (COSYNA), einem integrierten Beobachtungs- und Modellierungssystems, das den Umweltzustand der Küstengewässer von Nordsee und Arktis beschreibt und vom HZG koordiniert wird. COSYNA beliefert Behörden mit Daten, die bei der Planung von Routineaufgaben wie etwa Küstenschutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Notfälle helfen sollen. Mit dem Observatorium ist dem System ein wichtiges Element verloren gegangen.

Die Lage von Boknis Eck ist ideal für die Forschung. Hier zeigt sich ein Küstenökosystem unter dem Einfluss ausgeprägter Veränderungen des Salzgehalts und der Sauerstoffarmut, die entsteht, wenn Bakterien organisches Material zersetzen. Das Observatorium war ausgestattet mit modernsten Sensoren. Wie viel Sauerstoff steht Organismen im Meerwasser zur Verfügung? Welche Nährstoffe sind im Wasser gelöst? Wie stark ist das Wachstum von Plankton? Antworten auf diese Fragen lassen Rückschlüsse darauf zu, wie es um das marine Ökosystem bestellt ist. „Die kontinuierlichen Messungen haben die monatliche Zeitserie perfekt ergänzt und konnten dank ihnen ganz neue Bezüge zwischen den Daten herstellen“, erklärt Hermann Bange. Untersuchungen hätten gezeigt, dass sich viele Ereignisse mit den monatlichen Messungen nicht erfassen lassen, etwa kurzfristige Hitzeperioden oder einzelne starke Stürme, die Spuren im Ökosystem hinterlassen. Zwei Jahre Planungs- und Bauzeit investierten die Forscher, bevor sie die Station im Dezember 2016 installierten. 

„Der Boknis-Eck-Datensatz war auch international sehr gefragt. Es ist eine Schande, dass er nun eine so lange Lücke haben wird.“

Kann ein großer Fisch die Gestelle mitgerissen haben? Ausgeschlossen, viel zu schwer. Extreme Strömungen scheiden auch aus. Ebenso Sturm – es war sommerliches, ruhiges Wetter, und schwere Stürme hatte das Observatorium bisher ohne Schäden überstanden. Also Diebstahl? Die Wissenschaftler erstatten Anzeige, bitten die Wasserschutzpolizei um Unterstützung, die Kriminalpolizei beginnt mit Ermittlungen. Zeitungsberichte erscheinen, die Bevölkerung wird um Hilfe gebeten: Wer hat gesehen, dass Schiffe im Sperrgebiet unterwegs waren? Zwei Kilometer entfernt an Land liegt ein Campingplatz, der mit seinem schönen Meeresblick wirbt. Aber keiner hat an diesem Morgen auf dem Meer etwas Verdächtiges erblickt.

Die Polizei tappt im Dunkeln: „Es gibt bislang keine Fundstücke“, bemerkt Sönke Hinrichs von der zuständigen Polizeidirektion Neumünster. Nichts, was Hinweise auf den Verbleib gibt. „Die Ermittlungen ergaben bisher keine näheren Verdachtsmomente.“ Die Marine betreibt in der Eckernförder Bucht eine Torpedoschießbahn, und auch das 1. Ubootgeschwader sowie Flottendienstboote sind dort stationiert. Könnte also ein Schiff oder gar ein U-Boot der Marine die Station aus Versehen gerammt und mitgeschleift haben? Hauptbootsmann Maria Hagemann, Sprecherin der Deutschen Marine: „Wir haben alles überprüft – keines unserer U-Boote oder Schiffe war an diesem Tag in der Nähe.“

Übrig blieb ein zerfasertes Landanschlusskabel. Bild: Forschungstauchzentrum des CAU

Laut Schiffsbewegungsdaten war überhaupt kein Schiff zum fraglichen Zeitpunkt bei Boknis Eck unterwegs. Erhoben werden diese Daten auf dem Meer mit dem AIS-System (Automatic Identification System). Will sich ein Kapitän aber nicht entdecken lassen, kann er den Sender, den es in jedem Schiff ab einer Länge von 20 Meter geben muss, auch einfach ausschalten und wäre damit quasi unsichtbar. Des Rätsels Lösung soll ein Schleppnetzfischer sein, der heimlich und verbotenerweise im Sperrgebiet gefischt hat. Schleppnetze bestehen aus trichterförmigen Säcken, die Schwarmfische wie Heringe, Kabeljau, Seelachs, Sprotten und Makrelen einsammeln. Grundschleppnetze werden sogar über den Boden gezogen, um dort mit schweren Ketten den Meeresboden aufzuwühlen und Plattfische aufzuscheuchen. Die Netze sind mitunter bis zu 1,5 Kilometer lang. Schleppnetzfischer sind in der Kritik, weil sie mit moderner Ortungstechnik wie Echolot Fischschwärme gezielt orten, Meere systematisch leer fischen und dabei große Mengen an Beifang in Kauf nehmen – ein Unterwasserobservatorium würde da zunächst gar nicht auffallen. 

Hermann Bange trauert vor allem um die Daten. „Der Boknis-Eck-Datensatz war auch international sehr gefragt“, sagt er, „und es ist eine Schande, dass er nun eine so lange Lücke haben wird.“ Der kleine Teil des Observatoriums, der unversehrt geblieben ist, ist mit Sensoren zu Fluoreszenz und Chlorophyll ausgestattet und könnte demnächst wieder angeschlossen werden – sofern das Kabel keinen zu großen Schaden genommen hat. Je länger es allerdings offen auf dem Meeresboden liegt, desto unwahrscheinlicher wird das. „Der Aufwand, das Kabel neu zu legen, ist enorm“, bekräftigt Hermann Bange. „Die ganze Station neu zu bauen, wird etwa ein Jahr dauern. Wir können nur hoffen, dass die Versicherung einen großen Teil der Kosten übernimmt.“ 

Das Taucherteam von der Universität Kiel hat kürzlich von einem Forschungsschiff aus den Meeresboden mit Multibeam-Echolot abgesucht. Dieses hochauflösende Sonar zeigt die Bodenstruktur am Meeresgrund – und offenbarte eine 360 Meter lange Schleifspur. So konnten die Taucher zwei Gebiete eingrenzen, in denen die Reste der Messstation vielleicht liegen. Seine letzte Hoffnung setzt Forscher Hermann Bange also auf die nächsten Tauchgänge. Die Sicht allerdings macht Tauchlehrer Friedrich Sorgen: „Wenn Sie nur 20 bis 30 Zentimeter Sicht haben, ist sogar ein Radius von 10 oder 20 Quadratmetern riesig, wenn Sie ihn absuchen müssen.“ Für Hermann Bange aber liegt in diesem Radius große Hoffnung.

Boknis Eck: Forschung seit 1957

Der Name Boknis Eck ist in der Meeresforschung weltbekannt. Seit 1957 werden dort regelmäßig Umweltdaten wie Temperatur, der Salz- und Nährstoffgehalt sowie Sauerstoff- und Chlorophyll erhoben. Sie lassen Rückschlüsse auf den Zustand der südwestlichen Ostsee zu. Damit ist die Datenreihe von Boknis Eck eine der ältesten noch aktiven meereswissenschaftlichen Zeitserien weltweit.

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