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Auswirkungen des Lockdowns

“Aus wissenschaftlicher Sicht eine einmalige Chance“

Das Forschungsflugzeug HALO startet zur Mission BLUESKY. Ziel ist es zu erforschen, wie sich die Erdatmosphäre unter den Corona-Kontaktbeschränkungen verändert hat.Bild: DLR (CC-BY 3.0)

Forscher wollen verstehen, welche Rolle die Atmosphäre im Klimageschehen spielt. Der Corona-Lockdown bietet ihnen die Möglichkeit, einzigartige Messungen vorzunehmen.

Der Lockdown und der folgende wirtschaftliche Einbruch sorgten laut Internationaler Energieagentur (IEA) für den stärksten Rückgang von Treibhausgasemissionen seit mindestens 60 Jahren. Neben den Klimagasen ging auch der Ausstoß von Luftschadstoffen wie Stickoxiden zurück. Doch es gibt große regionale Unterschiede. „Je nachdem, an welchen Orten man Schadstoffkonzentrationen misst, kommt man zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen“, erläutert Johannes Orphal, Sprecher des Helmholtz-Programms Atmosphäre und Klima (ATMO). „Einzelne Datensätze sagen daher noch nicht viel aus, entscheidend ist der hochkomplexe Kontext.“

Ziel des Programms ATMO ist es, die Rolle der Atmosphäre im Klimasystem besser zu verstehen. Dazu arbeiten Wissenschaftler aus mehreren Helmholtz-Zentren zusammen. Grundlage für ihre Forschung sind aufwendige Messungen atmosphärischer Parameter, die sie weltweit an Bodenstationen, mithilfe von Flugzeugen, Ballons, Satelliten und auch mit einem Zeppelin durchführen. „Durch ein außergewöhnliches Ereignis wie den aktuellen Lockdown bekommen wir Daten, die viele Fragen beantworten können“, sagt Orphal. 

In den Messkampagnen kam auch ein Zeppelin zum Einsatz. Die Box mit den Messgeräten wird unterhalb der Passagierkabine angebracht. Gemessen werden Spurengase und Feinstaub. Bild: Forschungszentrum Jülich / Ralf-Uwe Limbach

Da die Helmholtz-Forscher die Atmosphäre ohnehin intensiv beobachten, haben sie Veränderungen durch den Lockdown in jeder Phase aufgenommen. „Wir waren bereit“, betont Orphal. Messungen von spektakulären Emissionsrückgängen in China sorgten zuerst weltweit für Aufsehen. Auch in Deutschland gab es extreme Reduktionen: „Am Frankfurter Flughafen ging zeitweise die Konzentration der Stickoxide um das Zehnfache zurück“, so Orphal.

Den Klimaeffekten von Kondensstreifen auf der Spur 

Einen besonderen Blick auf die Corona-Phase hat auch Christiane Voigt vom DLR-Institut für Physik der Atmosphäre in Oberpfaffenhofen. Sie koordiniert die Aktivitäten des Forschungsflugzeugs Falcon. Weil gerade sonst kaum jemand in der Luft ist, haben die beiden Messflugzeuge HALO und Falcon des Forschungsteams im Projekt BLUESKY zurzeit freie Bahn. „Die freie Troposphäre, etwa zwei bis zehn Kilometer über dem Erdboden, ist extrem wichtig für die Entwicklung des Klimas“, erläutert Orphal. „Deshalb messen wir unter den aktuellen Umständen dort ganz gezielt.“ Um 80 bis 90 Prozent ist der europäische Luftverkehr innerhalb kürzester Zeit zurückgegangen; für die Forscher eine Gelegenheit zu Untersuchungen, die unter normalen Bedingungen völlig undenkbar sind: Wie ändert sich die Zusammensetzung der Luft, wie schnell schlägt sich die geringere Schadstoffbelastung in der Atmosphäre nieder? „Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um unsere Forschungsflugzeuge schnell startklar zu kriegen“, sagt Christiane Voigt.

Eines der Ziele der Forscher: Sie möchten herausfinden, welche Klimawirkungen Kondensstreifen haben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie wie ein um die Erde gelegter Schal Wärmestrahlung in der Atmosphäre halten. Der Beitrag der reflektierten Solarstrahlung ist weniger groß, sodass Kondensstreifen in der Summe eine Erwärmung zur Folge haben. Die Wissenschaftler möchten mit den Messungen auch die Wirkung von Aerosolen und die Dynamik auf Wolken untersuchen, um mit diesem besonderen Datensatz zur Beantwortung einer der aktuellen Herausforderungen der Klimaforschung beizutragen. Die Früchte der ergiebigen Messungen werden Christiane Voigt und ihr Team über längere Zeit hinweg ernten: „Wir möchten die aktuellen Werte aus der Corona-Zeit vergleichen mit den Ergebnissen unserer früheren Messkampagnen und weiteren Messungen im nächsten Jahr“, sagt die Forscherin.

Die Forschungsflugzeuge Falcon und HALO stehen bereit zur Mission BLUESKY. Bild: DLR (CC-BY 3.0)

Die systematische Auswertung der gesammelten Daten ist besonders relevant. Denn was die Wissenschaftler messen, wirft auch viele Fragen auf. Nachdem eruiert worden ist, welche Emissionen wo und in welchem Maße gesunken sind, lässt sich dies mit weiteren Parametern verknüpfen: Eine entscheidende Frage ist, in welchen Bereichen und Zeiträumen sich die Zusammensetzung der Atmosphäre verändert hat. Bereits bestehende Modelle, die hochrechnen, wie sich das Klima verhält und entwickelt, können mit diesem neuen Input verbessert werden – gerade weil er sehr spezifisch ist: In einem klar umrissenen Zeitraum wurden ganz bestimmte Emissionen in erheblichem Umfang reduziert. Doch diese Datenlage ist komplex. „Antworten darauf können unter anderem Modellierungen von Prozessen an Hochleistungsrechnern geben“, erläutert Peter Braesicke, wissenschaftlicher Koordinator der Helmholtz-Klimainitiative Regionale Klimaänderungen (REKLIM). „Erst mithilfe von Modellen werden aus einzelnen Daten die großen Zusammenhänge erkennbar, die unser hochkomplexes klimatisches System widerspiegeln.“

„Die Veränderung des Klimas, die wir bislang beobachten, ist Folge menschlichen Handelns, das sich seit dem 19. Jahrhundert akkumuliert hat. In diesem Kontext ist der Lockdown ein marginales Ereignis“
Peter Braesicke

Ein Beispiel: Die Messungen haben ergeben, dass in den urbanen Ballungsräumen die Emissionen von Treibhausgasen nicht so stark gesunken sind wie man hätte erwarten können. „Um herauszufinden, wie gemessene Konzentrationen zustande kommen, reicht es nicht aus, die Emissionen buchhalterisch zu erfassen“, sagt Braesicke. „Im besten Fall kennen wir die Quellen, wissen, wie viel sie emittieren und in welchem Maße ihr Einsatz während des Lockdowns reduziert worden ist.“ Ob nun aber zum Beispiel bestimmte industrielle Quellen an bestimmten Tagen einen größeren oder kleineren Einfluss auf die Luftqualität einer Stadt haben, lasse sich nur schwer belegen, da andere Faktoren noch herausgerechnet werden müssten. Denn wenn Messergebnisse an einem Ort schwanken, wird dies bisweilen auch durch das Wetter verursacht. Steigt die CO2-Konzentration an einer Messstation deutlich an, weht der Wind vielleicht von einem Kilometer entfernten Kohlekraftwerk her.

Auch der Lockdown muss erst einmal analysiert werden: Die Wirtschaft wurde nicht komplett auf null gefahren; aber in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß wurden Emissionen reduziert? „Wenn wir davon ein Bild bekommen, lassen sich die Daten entsprechend auswerten, um Klimamodelle zu verbessern“, sagt Braesicke. „Einzelne Schwankungen hingegen sagen noch nicht viel aus.“ Der Rückgang der Treibhausgase ist zwar erfreulich, hat aber nur dann eine langfristige Wirkung, wenn sich auch unser Verhalten nachhaltig ändert: „Die Veränderung des Klimas, die wir bislang beobachten, ist Folge menschlichen Handelns, das sich seit dem 19. Jahrhundert akkumuliert hat. In diesem Kontext ist der Lockdown ein marginales Ereignis“, so Braesicke. Aus wissenschaftlicher Sicht kommt erschwerend hinzu, dass der betreffende Zeitraum gerade mal drei Monate umfasst – und schon fährt die Wirtschaft wieder hoch. Ein ganzes Jahr Lockdown würde Daten liefern, die sämtliche jahreszeitlichen Schwankungen beinhalten. Und ein wissenschaftliches Experiment wird mehrmals durchgeführt, um statistisch zuverlässige Daten zu erhalten. Mit Blick auf den Lockdown wünschen sich das aber nicht einmal Klimaforscher.

BLUESKY-Flüge in der Atmosphäre des Corona-Lockdowns (DLR)

Bericht von den Forschungsflügen der Mission BLUESKY (DLR)

 Corona und die Luftqualität im Rheinland (Forschungszentrum Jülich)

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