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Klimawandel

Eisschmelze in der Arktis setzt Schadstoffe frei

Die Framstraße, ein abgelegenes Seegebiet zwischen Grönland und Spitzbergen. Dort hat Hanna Joerss nachgewiesen, dass der Arktische Ozean zu einer Quelle für Schadstoffe wird. Bild: HZG/Hanna Joerss

Der rapide Eisverlust in der Arktis macht Wissenschaftlern vor allem wegen der Auswirkungen auf das globale Klimasystem Sorge. Nun zeigt sich, dass durch das Abschmelzen des Eises auch Schadstoffe freigesetzt werden, die im Eis gebunden waren.

Die Forschenden packen eilig zusammen. Sensoren und Probengerät verschwinden in Transportkisten. Gerade noch rechtzeitig. Nur einen Tag später knirscht es laut – am 30. Juli dieses Jahres bricht der Stützpunkt der bisher größten Arktismission auseinander: An die MOSAiC-Eisscholle angedockt ist der Eisbrecher Polarstern genau 300 Tage lang auf deren Reise mitgedriftet, 1.700 Kilometer von der Laptewsee vorbei am Nordpol bis in die Framstraße. Eine Forschungsfahrt, die unter anderem gezeigt hat: Das Eis im Norden schmilzt immer schneller. Besonders in der sibirischen Arktis sind die Temperaturen in diesem Jahr bemerkenswert hoch. Das ist mit ein Grund für rasches Tauen in der östlichen Arktis, aber nicht der einzige. „Das Tempo der Eisdrift spielt auch eine Rolle. Winde und Strömungen treiben es in diesem Jahr enorm an“, sagt Professor Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung (AWI), das die Eisschollenmission und deren Folgeuntersuchungen leitet.

In der Tat hat die sogenannte MOSAiC-Scholle von der sibirischen See über den Pol bis Grönland und Spitzbergen nur überraschend kurze zehn Monate gebraucht. „Bei einer solchen Mobilität kann das Eis vor der sibirischen Küste kaum altern und es bleibt vergleichsweise dünn. Es schmilzt dann schneller und kann nicht mehr den Transpolarstrom erreichen, mit dem es weiter nach Norden treiben würde.“ Bisher konnten die Forschenden die unterschiedlichen Energieflüsse und deren Wirkungen auf das Eis  nur durch Fernerkundungen per Satellit oder Flugzeug untersuchen. Im Rahmen der MOSAiC-Mission war es nun erstmals möglich, die zugrundeliegenden Prozesse direkt über und unter der Eisoberfläche zu messen.  Welcher Faktor der Energiebilanz bewirkt was und wie stark? „Das lässt sich erst einmal noch nicht gewichten, ich würde da keinen Faktor über den anderen stellen“, sagt Haas. „Wir haben aber viele Daten gewonnen, die wir nun auf die verschiedenen Gleichgewichte hin analysieren und in die Klimamodelle einspeisen.“

Hanna Joerss während der Expedition an Bord der Polarstern. Bild: HZG/Zhiyong Xie

Dass es dabei nicht nur ums Klima geht, hat jüngst eine andere Studie gezeigt, die mit der MOSAIC-Mission nichts zu tun hatte. Denn das Eis hat Schadstoffe eingeschlossen, die nun wieder frei werden. Im Jahr 2018 wurde das Wasser in der Framstraße beprobt und auf 29 gezielt ausgesuchte Substanzen analysiert: per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen, kurz PFAS. Hinter diesem Kürzel verbergen sich insgesamt mehr als 4.500 verschiedene Stoffe, die unter Einfluss von Wärme oder Licht chemisch stabil und obendrein wasser- und zugleich ölabweisend sind. Letzteres macht sie industriell interessant. So sind sie in unserem Alltag überaus präsent – von beschichteten Regenjacken über Kochgeschirr, Lacke und Teppichpflegemitteln bis zu Feuerlöschschäumen. „Von den meisten der mehreren tausend PFAS ist nur bekannt, dass es sie gibt, nicht aber, inwieweit sie wirklich Verwendung finden und im Umlauf sind. Einige von ihnen sind heute verboten. „Wir haben die bekannten, bereits regulierten PFAS sowie ihre Ersatzstoffe analysiert, für die Referenzstandards erhältlich sind“, sagt Hanna Joerss vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht für Material- und Küstenforschung (HZG) über die Auswahl.

Das Problem: Einige der Substanzen lösen sich gut in Wasser, sind daher sehr mobil. Zudem sind sie in der Umwelt nicht abbaubar – weder biologisch, noch durch Wasser, Luft oder Licht. Argumente, sie nach der europäischen Chemikalien-Verordnung (REACH) als besonders besorgniserregende Stoffe einzustufen. Sie stehen in Verdacht, verschiedene negative Auswirkungen auf die Gesundheit zu haben. So könnten sie die Wirkungen von Impfungen vermindern, die Neigung zu Infekten erhöhen, Cholesterinwerte in die Höhe treiben und bei Nachkommen ein verringertes Geburtsgewicht zur Folge haben.  

„Sie gelangen zum Beispiel über industrielle und häusliche Abwässer in den Wasserkreislauf und die Kläranlagen können sie nicht wirksam entfernen. Dann zirkulieren sie in der Umwelt und reichern sich über die Nahrungskette letztlich auch in unserem Körper an. Gelangen sie in die Arktis, lagern sie sich in Eis und Schnee ab und sind damit raus aus dem System. Vorerst jedenfalls. Denn jetzt taut es verstärkt und die Stoffe kommen zurück ins Wasser“,  erläutert Joerss den Weg der potenziell gefährdenden Moleküle.

"Wir müssen verstehen, dass die Arktis unter bestimmten Umständen nicht mehr nur Senke für Schadstoffe ist, sondern auch Quelle"

Dass sich diese Verbindungen hoch im Norden nachweisen lassen, überrascht sie nicht weiter. „Wir haben sie dort erwartet. Über die Wasserströme brauchen sie letztlich nur ein paar Jahre bis so weit in den Norden. Durch die Luft geht das sogar in Wochen bis Monaten.“

Verblüfft hat etwas anderes: der große Unterschied der Konzentrationen im Wasser. Das Wasser, das bei Spitzbergen in die Framstraße hineinströmt, enthält deutlich weniger PFAS als das Wasser, das bei Grönland wieder herausfließt. Und Letzteres ist mit dem Schmelzwasser des Grönlandeises angereichert. Die charakteristische Zusammensetzung der verschiedenen PFAS im austretenden Wasser deutet indes darauf hin, dass ein größerer Anteil aus atmosphärischen Quellen stammt als im eintretenden Wasser, in dem der Transport mit den Meeresströmungen eine größere Rolle spielt. Dennoch: „Wir müssen verstehen, dass die Arktis unter bestimmten Umständen nicht mehr nur Senke für Schadstoffe ist, sondern auch Quelle.“ In welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen genau, ist noch zu erforschen.

Jetzt, nach dem Aus der MOSAIC-Scholle, sammelt die Polarstern erst einmal zuvor  ausgesetzte autonome Messstationen ein. In der Eisrandzone nehmen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch weitere Proben. Dann geht es zurück nach Norden ins Eis hinein, um das Gefrieren im Herbst zu untersuchen. „Diese Etappe ist ebenso spannend wie die Reise mit der Scholle vorher“, sagt Christian Haas. „Zum Beispiel sind die Mechanismen zwischen dem Tauen durch wärmeres Wasser, das unter das Eis strömt, und neuerlichem Gefrieren noch nicht genau verstanden.“ Eine neue Frage unter vielen. So geht die Expedition MOSAiC weiter und mit ihr die Suche nach neuen Modellbildern der arktischen Prozesse – auch wenn die gleichnamige Scholle Geschichte ist.

Neuer organischer Schadstoff zum ersten Mal im Arktischen Ozean nachgewiesen (Pressemitteilung HZG)

Fragen und Antworten zu PFAS (Bundesinstitut für Risikobewertung)

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