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Energiewende

„Niemand hat das Gesamtsystem im Blick“

Bild: denisismagilov/Fotolia

Warum steigt der CO2-Ausstoß in Deutschland, obwohl der Anteil der Erneuerbaren immer größer wird? Oft sind es die Wechselwirkungen in einem komplexen System, die zu ungewollten Effekten führen. Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen arbeiten deshalb an einer Art Navigationssystem für die Energiewende.

Das Szenario ist klar umrissen: „Nehmen wir an, der Staat will den Kauf eines Elektroautos mit 3.000 Euro fördern“, sagt Ortwin Renn. „Wer kauft dann?“ Viele würden sich mit dem Geld ihr Drittauto kaufen, einige andere hätten ohnehin ein Elektrofahrzeug bestellt und nähmen nun die Prämie gern mit. Der Rest wären diejenigen, die tatsächlich wegen des Zuschusses von ihrem Benziner umsteigen würden. „Die Frage, die sich der Gesetzgeber vor einer solchen Subvention stellen muss, ist die nach der Kosteneffizienz: Wie viele Menschen beeinflusst er im intendierten Sinne?“

Solche Erwägungen treiben Ortwin Renn schon lange um. Der Volkswirt und Soziologe ist Direktor am Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) und Sprecher des Kopernikus-Projekts Systemintegration. Mit seinem Beispiel von den Elektroautos zeichnet er im Kleinen nach, was sein Forschungskonsortium im Großen bewerkstelligen soll: Eine Art Navigationsinstrument wollen die Wissenschaftler erstellen, das dabei hilft, auf dem Weg zur Energiewende die richtigen Entscheidungen zu treffen – deshalb heißt das Forschungsvorhaben in der Kurzform ENavi. „Wir möchten zu einer möglichst präzisen Interventionsfolgenabschätzung gelangen, die dabei hilft, die Auswirkungen von Entscheidungen besser beurteilen zu können“, sagt Renn. Damit das gelingt, sind Forscher aus unterschiedlichen Bereichen an Bord, von Juristen über Philosophen bis zu Volkswirtschaftlern, ergänzt um Fachleute aus der Zivilgesellschaft, beispielsweise von Umweltschutz-Organisationen. Ihre Expertise zu bündeln, ist eines der großen Ziele des Forschungsprojekts.

Armin Grunwald leitet das Institut für Technikfolgenabschätzungund Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie in der Helmholtz-Gemeinschaft. Bild: Anne Behrendt, www.kit.edu

Armin Grunwald, Physiker und Philosoph vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie und einer der Koordinatoren des Projekts, erläutert die besondere Komplexität des Themas mit einem weiteren Beispiel. „Der Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland steigt kontinuierlich, aber trotzdem nehmen die CO2-Emissionen paradoxerweise zu“, sagt er. Das hänge unter anderem mit den Zertifikaten für den CO2-Ausstoß zusammen, die nach einer internationalen Übereinkunft eigentlich die Emissionen beschränken sollten. Wer CO2 in großem Maßstab ausstößt, muss sich diese Zertifikate quasi als Erlaubnis kaufen – „aber sie sind so günstig, dass es sich für die Energieversorger zum Teil lohnt, Kohlekraftwerke wieder ans Netz zu nehmen“, sagt Grunwald. So stark vereinfacht dieses Beispiel auch sei, zeige es doch sehr deutlich die Problematik, die es auf vielen Feldern gebe: „Es kann zu Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Entscheidungen kommen, und genau die wollen wir rechtzeitig entdecken.“ Oft hingen diese Wechselwirkungen schlicht mit den zahlreichen Entscheidungsebenen zusammen: Für manches sind kommunale, für anderes wiederum internationale Akteure zuständig – „jeder trifft für sich selbst schlüssige Entscheidungen, aber in Summe kommt dadurch keineswegs automatisch das Optimum heraus“, sagt Grunwald: „Es gibt einfach keine Ebene, die das Gesamtsystem im Blick hat.“

Diese unterschiedlichen Ebenen im politischen Entscheidungsprozess spiegelten sich bislang auch in der Wissenschaft wider. Es gibt auf der einen Seite makroökonomische Modelle, die meistens recht grobmaschig sind, und auf der anderen Seite viele konkrete Studien aus dem Bereich der Technikfolgenabschätzung, die sich allerdings meist auf die lokale Ebene beziehen. „Aber wie die verschiedenen Bereiche ineinander greifen, darüber gibt es nur wenige Erkenntnisse“, sagt Armin Grunwald. Genau da will ENavi die Daten von den unterschiedlichen Ebenen zusammenführen: „Es bedarf einer Modellierung des Energiesystems, wie es sie bislang noch nicht gab.“ Das Ergebnis ist dann nicht nur ein Vorhersage-Mechanismus, sondern im Idealfall auch ein Bündel von wirkungsvollen Handlungsoptionen dafür, wie sich Organisationsformen, gesetzliche Regulierungen und staatliche Interventionen wie beispielsweise eine Prämie für Elektroautos am besten gestalten lassen.

Die besondere wissenschaftliche Herausforderung liegt darin, die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einzubinden: Juristen sind für die Fragen der Regulierung an Bord, Ökonomen für die wirtschaftlichen Zusammenhänge, dazu Organisationssoziologen Psychologen, Ingenieure und Naturwissenschaftler. „Wir wollen die systemischen Verbindungen in diesem komplexen Feld aufzeigen“, sagt Projektsprecher Ortwin Renn. Wenn er über das geplante Navigationssystem spricht, wählt er augenzwinkernd das Bild eines Orakels: In der Mitte steht das Navigationssystem, „das wäre dann quasi das Delphi-Heiligtum“, umgeben von drei gestaffelten Kreisen. Im inneren Kreis die Wissenschaftler, die ihre Erkenntnisse einspeisen und damit das Orakel füttern. Im mittleren Kreis befinden sich die Stakeholder, also etwa Energieversorger und Umweltorganisationen, die Fragen stellen und auf die Ergebnisse reagieren. Den äußeren Kreis bildet schließlich die Öffentlichkeit.

Unverbindlich und rätselhaft wie ein Orakelspruch soll das Ergebnis indes nicht sein. Der Anspruch ist es, auf transparente Weise alternative zukünftige Entwicklungen zu erforschen, um die Auswirkungen von Eingriffen so genau wie möglich zu bestimmen. Dem trägt auch der Ablauf des Kopernikus-Projektes Rechnung: Während in der ersten Phase der zehnjährigen Laufzeit vor allem Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und Modellen geschaffen und Informationslücken geschlossen werden, geht das Navigationssystem in der zweiten Phase in einen Praxistest. In einer Laborsituation könnte eine kleinräumige Energieversorgung mitsamt unterschiedlicher erneuerbaren Energiequellen und Speichertechniken ausprobiert werden. Zu welchen Wechselwirkungen kommt es, wie reagieren die Kunden auf Stromausfälle oder andere Eventualitäten? Damit könnten die Wissenschaftler überprüfen, ob ihre Annahmen aus den aufgestellten Modellen tatsächlich zutreffen und wo noch Ergänzungsbedarf besteht.

In der dritten und abschließenden Phase soll dann eine Art User-Interface konstruiert werden – sprich: die theoretischen Erkenntnisse sollen so aufgearbeitet werden, dass die Entscheidungsträger sie in der Praxis anwenden können. Eine Ungewissheit bleibt, mit der die Wissenschaftler während der gesamten Projektlaufzeit rechnen müssen: „Einzelne Faktoren werden sich ändern. Darauf müssen wir unser Navigationssystem laufend einstellen“, sagt Ortwin Renn. Wenn etwa ein anderes Kopernikus-Projekt zu neuen Erkenntnissen kommt, arbeitet er sie mit seinen Kollegen gleich in das System ein – genauso wie andere systemprägende Veränderungen wie Energiepreise, Gesetze oder internationale Regulierungen, die in diesem sensiblen Gefüge sofort eine große Tragweite haben.

Kopernikus-Projekte

Die Kopernikus-Projekte stellen die größte Forschungsinitiative zur Energiewende dar. Sie verfolgen ein hochgestecktes Ziel: „Bis 2025 bringen wir neue Energiekonzepte auf den Weg, die im großtechnischen Maßstab angewendet werden können – und die auch gesellschaftlich mitgetragen werden“, sagte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka zum Auftakt. Die Forschungsvorhaben sind in vier Schlüsselbereiche unterteilt, die inhaltlich den großen Herausforderungen der Energiewende folgen: Die Entwicklung von Stromnetzen, die Speicherung überschüssiger erneuerbarer Energie durch Umwandlung in andere Energieträger, die Neuausrichtung von Industrieprozessen auf eine schwankende Energieversorgung und das verbesserte Zusammenspiel aller Sektoren des Energiesystems.

An jedem der vier Kopernikus-Projekte sind Universitäten, außeruniversitäre Forschungsuniversitäten, Unternehmen und gesellschaftliche Akteure beteiligt. Die Projekte laufen, unterteilt in drei Etappen, jeweils für eine Dauer von zehn Jahren. Am Ende sollen greifbare und umsetzbare Lösungen stehen. Wir stellen die vier Kopernikus-Projekte in loser Folge vor.

Teil 1: Das Netz der Zukunft

Teil 2: Power to X

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