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Theater trifft Wissenschaft

Szenen eines Lebens

Mary Page Marlowe wird im Berliner Ensemble von drei Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters gespielt: v.l. Bettina Hoppe, Carina Zichner, Corinna Kirchhoff, Bild: Julian Röder/Berliner Ensemble

Wir haben mehrere Rollen, schlagen neue Wege ein und gestalten unser Leben. Doch wie frei sind wir in unseren Entscheidungen wirklich? Wissenschaft und Theater diskutierten über Willensfreiheit.

Die Junge Mary Page Marlowe tanzt mit ihren Freundinnen ihrer Zukunft entgegen, v.l. Ruby Commey, Carina Zichner, Bineta Hansen, Bild: Julian Röder/Berliner Ensemble

Am Anfang scheint alles gut zu werden: Drei Mädchen tanzen und lachen ausgelassen in einem Jugendzimmer. Sie freuen sich auf ihre Zukunft und träumen von den vielen Möglichkeiten, die vor ihnen liegen. Mary Page Marlowe erzählt vom Heiratsantrag ihres Freundes. Ihre Freundinnen fragen aufgeregt nach einem Verlobungsring. Doch die 19-Jährige hat den Antrag abgelehnt: "Das ist nicht das, was ich im Leben will", sagt Mary. Statt jung zu heiraten, habe sie Ideen, Träume und wolle reisen. "Ich werde ich sein!", ruft sie und tanzt weiter ihrer Zukunft entgegen.

Diese Theaterszene ist eine von elf Momentaufnahmen, die Einblicke in das Leben einer amerikanischen Frau geben. "Eine Frau - Mary Page Marlowe" wird von vier Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters gespielt und in der Spielzeit 2017/18 im Berliner Ensemble aufgeführt. Tracy Letts lässt in seinem Stück das Publikum an vielen Lebensereignissen der Protagonistin teilhaben. In der Inszenierung des Regisseurs David Bösch dreht sich die Bühne wie ein Karussell des Lebens und springt in der Erzählung zeitlich vor und zurück. Das Theaterstück wirft viele Fragen rund um Identität und die Freiheit des menschlichen Willens anhand einer Lebensgeschichte auf: Wer oder was prägt meine persönliche Geschichte? Welche Rollen nehme ich ein? Und sind meine Entscheidungen und Handlungen frei?

Mary Page Marlowe im Krankenbett und als Baby im Kinderwagen mit ihrer Mutter, v.l. Corinna Kirchhoff, Annika Meier, Bild: Julian Röder/Berliner Ensemble

Eine Besonderheit der Theatervorstellung am 25. April 2018 war: Das Publikum wurde mit all jenen Fragen nicht allein gelassen, sondern konnte gemeinsam nach Antworten suchen und diskutieren. Im Nachgespräch zum Thema "Willensfreiheit" trafen Theater und Wissenschaft aufeinander: Zwei der Hauptdarstellerinnen, Bettina Hoppe und Corinna Kirchhoff, sowie die Dramaturgin des Stücks, Sibylle Baschung, diskutierten mit Wissenschaftlern: Der Epigenetiker Johannes Beckers (Helmholtz Zentrum München, Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt) und der Neuropsychologe Andreas Meyer-Lindenberg (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim) gaben Hintergrundwissen zu Fragen rund um familiäre Prägung, Veranlagung und Willensfreiheit.

"Alkoholismus und Sucht sind Themen, an denen Fragen nach persönlicher Verantwortung für die eigene Lebensgeschichte besonders prägnant diskutiert werden können. Sie bieten sich für eine Kooperationsveranstaltung zwischen der Helmholtz-Gemeinschaft und dem Berliner Ensemble besonders gut an, da wir dieses hoch relevante Thema sowohl aus naturwissenschaftlicher, als auch aus gesellschaftlich-künstlerischer Sicht beleuchten können", sagt Andreas Kosmider aus der Helmholtz-Geschäftsstelle, der den Abend moderierte. "Die Diskussion mit den Wissenschaftlern konnte den Theaterbesuch mit Anregungen aus einem ganz anderen Blickwinkel ergänzen. Ich freue mich über die gelungene Kooperationsveranstaltung und über die vielen Fragen aus dem Publikum."

Am Ende blickt Mary als alte Dame auf ihr langes Leben zurück: Drei Ehen, zwei Kinder, Affären, Umzüge, ein Autounfall – und viel Alkohol. Immer wieder hatte Mary versucht, die Sucht aufzugeben. Corinna Kirchhoff, die Mary in ihrem Rentenalter spielt, sagt dazu: "Meine Deutung ist, dass sie den Alkohol braucht, dieses Dumpfe, alles Verbindende des Alkoholrausches, um die Kanten und Brüche in ihrem Leben, um den Schmerz der Abbrüche zu betäuben, um zumindest ein, wenn auch trügerisches, Gefühl von Zusammenhang und Kontinuität in sich wahrnehmen zu können."

Doch die Sucht zieht Mary in ihren Bann: In einer der Szenen greift die gestresste Mutter erneut zur Flasche. "Ich versuche hier nur, alles zusammen zu halten!", rechtfertigt sie sich vor ihrer vernünftigen Tochter.

Halten die fragilen Fragmente ihrer Lebensgeschichte letztendlich wie ein Flickenteppich zusammen? Wir diskutierten über "Willensfreiheit" im Anschluss an die Vorstellung im Berliner Ensemble.

Nach der Vorstellung von "Eine Frau – Mary Page Marlowe" begrüßte der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, die zahlreich erschienenen Gäste zur ersten Kooperationsveranstaltung zwischen der Helmholtz-Gemeinschaft und dem Berliner Ensemble im Großen Salon des Hauses, der mit über 150 Zuschauern bis zum letzten Platz gefüllt war.

Andreas Kosmider eröffnete die Diskussionsrunde mit der Frage, ob Mary Page in ihrem Leben tatsächlich eine Wahl hatte. "Wieviel Raum für Selbstbestimmtheit gab es für sie?"

Der Epigenetiker Beckers erklärte zu Beginn den Begriff Epigenetik und die Rolle der Gene für unsere Willensfreiheit: "Wir alle haben rund 21.000 Gene von unseren Eltern geerbt, das ist unsere genetische Grundausstattung, ein determiniertes Programm. Das heißt aber nicht, dass alles in unserem Leben determiniert ist. Wir haben auch Raum für Entscheidungsfreiheit."

Mayer-Lindenberg entgegnete aus Sicht eines Neuropsychologen: „Suchterkrankungen sind in der Klinik eine alltägliche Erfahrung. Man darf sie aber nicht als Willensschwäche verstehen. Die Gene spielen dabei eine entscheidende Rolle.“ Als er konstatierte, Autonomie sei weitgehend eine Fiktion, ging ein Raunen durchs Publikum.

Die Dramaturgin Baschung nahm eher eine soziologische Sichtweise ein: "Ich denke, dass der französische Soziologe Alain Ehrenberg die Probleme rund um den Begriff der Autonomie gut erfasst hat. Demnach hat sich unsere Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert von einer Disziplinargesellschaft zu einer Gesellschaft autonomer Individuen entwickelt. Doch das hat auch zur Folge, dass der Anspruch frei und autonom zu handeln und zu leben, für die Menschen zu einer Belastung wird und zu Erschöpfungszuständen, im schlimmsten Fall zu Depressionen, führt. Denn wir haben heute einen Zwang zu Selbstverwirklichung, mit dem nicht jeder umgehen kann."

Die Protagonistin Marlowe griff immer wieder zur Flasche und wurde von der Alkoholsucht in ihren Bann gezogen. Darstellerin Kirchhoff wirft zum Thema Alkoholsucht ein, dass sie gerade bei Frauen immer wieder erlebe, dass die eigene Biografie als eine zerstückelte wahrgenommen werde. Sie deutete Mary Page‘s Alkoholrausch als Art und Weise, diese Einzelteile zu einem Kontinuum zusammenzufügen.

"Für uns war die zentrale Frage dieses Stücks, was ein gelungenes Leben ist. Im Rückblick kann Mary Page ihrem Leben einen Sinn geben", so Baschung. Der Wendepunkt in ihrem Leben kam mit einem Unfall, den sie verursacht hatte. An der Stelle habe sie die volle Verantwortung für ihr eigenes Tun übernommen, ergänzte Hoppe.

Nach dem Gespräch richtete der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Otmar D. Wiestler einige abschließende Worte an die Gäste: "Als Wissenschaftler leben wir – wie auch die Kunst und die Kultur – von Neugier und von Experimenten. Dieser Abend war ein überaus gelungenes Experiment."

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