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Serie: 25 Jahre Mauerfall

Der erste Wartburg in Kiel

Nur wenige Stunden vor dem Mauerfall fuhr Christian Spiering von Zeuthen nach Kiel, um einen Vortrag an der Universität zu halten. Den Mauerfall bemerkte er erst, als Kieler Passanten ihm am Morgen des 10. Novembers in seinem Wartburg applaudierten

Von Christian Spiering

Am Nachmittag des 9. November 1989, wenige Stunden vor dem Mauerfall, passierte ich die Grenze zur Bundesrepublik. Ich war nach langjähriger Sperre 1988 endlich zum „Reisekader“ gekürt worden. Dies war meine dritte Dienstreise in den Westen, und die erste mit dem Auto. Kollegen aus der Universität Kiel hatten mich zu einem Vortrag über das Baikal-Neutrinoteleskop eingeladen.

Als ich in den späten Abendstunden in einer Kieler Pension angekommen war, vervollständigte ich meine Vortragsfolien. Danach ging ich völlig ahnungslos ins Bett. Ebenso ahnungslos frühstückte ich am nächsten Morgen und fuhr dann mit meinem klapprigen Wartburg auf die Straße. Dort aber geschahen seltsame Dinge! Passanten applaudierten mir und formten mit der Hand das Victory-Zeichen. Was war das?

Eher zufällig schaltete ich das Autoradio ein, und verstand: die Mauer war offen! Die Passanten dachten offenbar ich sei einer der ersten, die es nach Grenzöffnung bis hierher in den Norden geschafft hatten. Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand, weil mir die Tränen in die Augen traten. Wenn ich irgendwann intensiv gespürt habe, wie sehr mich die Mauer bis in mein Unterbewusstsein verfolgt hat, dann war es in diesem Moment, als sie  zusammenbrach. Am Eingang der Universität erwarteten mich meine Kollegen mit einer Flasche Sekt.

Ein paar Monate später fand ich mich auf dem Posten des stellvertretenden Direktors für Forschung am Institut für Hochenergiephysik in Zeuthen wieder, gewählt durch den wissenschaftlichen Rat des Instituts. Die Jahre 1990 und 1991 gehören zu den aufregendsten meines Lebens, voller Aufbruchsstimmung und Hoffnung, aber auch voller Zweifel und Unsicherheiten. Das Institut für Hochenergiephysik in Zeuthen gehörte zur Akademie der Wissenschaften in der DDR. Die Zukunft dieser Einrichtungen war völlig ungewiss. Was sollte aus unserer Arbeitsstätte werden? Ein Max-Planck-Institut? Die MPG war jedoch nicht interessiert. Ein „An-Institut“ einer Berliner oder Potsdamer Universität? Dafür war das IfH aber zu groß.

Schließlich stellte sich als beste Lösung die Angliederung an das DESY heraus. Einige meiner Kollegen arbeiteten schon seit langem an DESY-Projekten mit. Das DESY-Direktorium nahm den Vereinigungsprozess energisch in die Hand. Durch meine neue Stellung habe ich die Berg- und Talfahrt auf dem Weg zu dieser Lösung hautnah miterleben und mitgestalten dürfen.

Am 1.1.1992 wurden wir schließlich ein Teil von DESY. Besonders erleichtert waren wir, dass fast alle unsere Wissenschaftler übernommen wurden. Wenn man die Neugestaltung der ostdeutschen Forschungslandschaft nach der Wende betrachtet, war das eine glückliche Ausnahme und nicht die Regel.

Fachlich eröffnete die Wiedervereinigung für mich völlig neue Möglichkeiten. Im Jahr 1995 schloss ich mich mit meiner Gruppe dem Neutrino-Projekt AMANDA am Südpol an. Das war der Beginn eines Weges, der uns 2013 zur Entdeckung von kosmischen Hochenergie-Neutrinos mit dem IceCube-Teleskop geführt hat. Ein wissenschaftlicher Durchbruch, der uns 23 ½ Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer gelang - und pünktlich zu meiner Pensionierung!


Dr. Christian Spiering forschte bis zu seiner Pensionierung am DESY in Zeuthen. Seit den achtziger Jahren beschäftigt sich Spiering mit Neutrinos. Das sind  elektrisch neutrale Elementarteilchen, die der Schlüssel zum Verständnis vieler kosmischer Phänomene sein könnten. Spiering war federführend an großen internationalen Neutrinoexperimenten beteiligt. Mit dem Neutrinoteleskop Ice Cube konnten Forscher 2013  die ersten Neutrinos aus kosmischen Beschleunigungsprozessen nachweisen. Spiering ist heute Koordinator des weltweiten Neutrinonetzwerkes GNN (Global Neutrino Network).

Seine Erzählung ist Teil unserer Serie zum Mauerfall, in der Helmholtz-Forscher von ihren persönlichen Geschichten berichten. Eine Übersicht aller bisher erschienen Berichte gibt es hier: www.helmholtz.de/mauerfall

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