Direkt zum Seiteninhalt springen

Schlaganfall

Zeit ist Hirn

<b>Wenn der Kopf versagt</b> Trotz immer besserer Behandlungsmöglichkeiten ist der Schlaganfall immer noch eine der häufigsten Todesursachen. Bild: Simone Golob/Corbis

Nach einem Schlaganfall zählt jede Minute. Die neuen Hoffnungsträger sind sogenannte Mikrokatheter, mit denen Ärzte die gefährlichen Blutgerinnsel aus dem verstopften Gefäß manuell entfernen. Doch längst nicht jedem Patienten steht eine solche Behandlung offen

Ich muss mich noch von Hartmut verabschieden. Das ist der einzige klare Gedanke, der Thomas E. durch den Kopf geht. Er ist mitten in der Nacht aufgewacht, hat eingenässt, seine rechte Körperhälfte ist vollständig gelähmt. Er weiß nicht, was mit ihm passiert. Als er nach seinem Partner rufen will, kommt nur ein Lallen aus seinem Mund. Das ist jetzt das Ende, da ist er sich sicher. Sein Glück: Ehemann Hartmut hat einen leichten Schlaf. Sofort wählt er den Notruf; schon wenige Minuten später wird der 48-Jährige mit Verdacht auf Schlaganfall in die nahe gelegene Charité in Berlin-Mitte transportiert. Keine 20 Minuten später liegt er auf der Stroke Unit – eine der bundesweit 264 Stationen, die auf Schlaganfallpatienten spezialisiert sind. Bei Thomas E. hat ein großes Blutgerinnsel die linke innere Halsschlagader komplett verstopft. Das Gehirn ist bereits geschädigt, das zeigen die schweren motorischen Ausfallerscheinungen und der Sprachverlust. Wird die Arterie nicht schnellstmöglich wieder durchblutet, drohen Thomas E. bleibende Gehirnschäden und schwere Behinderungen.

Neben Krebs und Herzinfarkt gehört der Schlaganfall zu den drei häufigsten Todesursachen in Deutschland. Etwa 270.000 Menschen sind jedes Jahr betroffen, jeder dritte bleibt für den Rest seines Lebens behindert oder pflegebedürftig. „Ohne Blut- und Sauerstoffversorgung sterben nach einem Schlaganfall pro Minute etwa zwei Millionen von rund 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn ab“, sagt Martin Ebinger, Oberarzt in der Klinik für Neurologie der Charité. Seit Jahren erforscht er, wie die Versorgungskette beim Schlaganfall – vom Notruf bis zur erfolgreichen Rehabilitation des Patienten – verbessert werden kann. Ärzte unterscheiden zwischen zwei Arten von Schlaganfällen, erklärt Ebinger: dem hämorrhagischen Schlaganfall, ausgelöst durch eine Gehirnblutung, und dem mit 90 Prozent am häufigsten auftretenden ischämischen Schlaganfall, der durch den Verschluss eines Gefäßes verursacht wird – wie bei Thomas E. „Wir haben nur wenige Stunden Spielraum, bis es für gezielte Maßnahmen zu spät ist“, sagt Martin Ebinger. Er kann sich noch gut an Thomas E. erinnern; nicht nur, weil der noch recht jung ist. „Wenn der Patient innerhalb von viereinhalb Stunden nach einem ischämischen Schlaganfall bei uns ist, führen wir die Standardmethode durch, die Thrombolyse. Dabei spritzen wir ein Medikament, das die Gerinnung im Körper hemmt und dadurch das Blutgerinnsel auflöst“, erklärt der Neurologe. „Bei Thomas E. hat das leider nicht ausgereicht, um den massiven Blutpfropf komplett zu beseitigen. Die Situation war für ihn höchst bedrohlich.“

Thomas E. hat aber noch ein zweites Mal Glück im Unglück: Er befindet sich noch in dem knappen Zeitfenster, in dem eine weitere Behandlung möglich ist, und dank der schnellen Versorgung ist die Gewebszerstörung im Gehirn noch nicht zu weit fortgeschritten. Das sind genau die Bedingungen, die die Ärzte für einen zweiten Eingriff benötigen: Sie schieben von der Leistenarterie aus über die Halsschlagader bis zur Hirnarterie einen Mikrokatheter vor, einen sogenannten Stent- Retriever. An seiner Spitze sitzt ein ausfaltbares Maschendrahtnetz, in dem sich der Blutpfropf verfängt. Bei den neuesten Modellen saugt ein Unterdruck im Katheter ihn an und verhindert, dass kleinste Teile des Gerinnsels ins Gehirn abgeschwemmt werden und einen neuen Schlaganfall auslösen. Diese Methode, die der Arzt mithilfe von Kontrastmitteln und bildgebenden Verfahren steuert, wird von Experten rund um den Globus als neue Hoffnung im Kampf gegen den Schlaganfall gefeiert. Sie ist allerdings so kompliziert, dass sie viel Erfahrung verlangt und nur von speziell geschulten Ärzten eingesetzt werden darf.

<b>Lebensretter auf Rädern</b> Ein Berliner Rettungswagen, das Stroke-Einsatz-Mobil, ist speziell für Schlaganfall-Patienten ausgestattet – selbst ein Computertomograph ist an Bord. Bild: Charité UniversitätsmedizinBerlin

Neu ist diese invasive Katheterbehandlung allerdings nicht; schon seit 2009 wird sie in Deutschland angewandt. Noch profitieren davon aber nur etwa 13.000 Patienten pro Jahr, nur 99 Stroke Units sind bundesweit dafür ausgestattet. Lange Zeit stand die Methode unter Beschuss, weil es noch keine wissenschaftlichen Belege für ihre Wirksamkeit gab. Erst jetzt zeigen vier aktuelle Studien, dass sich die Behandlungsergebnisse signifikant verbessern, wenn die Ärzte zusätzlich den speziellen Katheter einsetzen.

„Wir wissen nun mit Sicherheit, dass die Therapie mit modernen Stent-Retrievern die Chancen für unsere Patienten, einen schweren Schlaganfall mit möglichst verträglichen Folgen zu überstehen, um 20 bis 30 Prozent steigert. Das ist ein spektakuläres Ergebnis“, sagt Matthias Endres, Direktor der Charité-Klinik für Neurologie und Vorstandsmitglied der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft. Für ihn besteht die größte Herausforderung darin, die Strukturen nun so zu verbessern, dass jeder Patient, der in Frage kommt, die Therapie erhalten kann – unabhängig davon, ob er auf dem Land lebt oder in der Großstadt.

Nach wie vor gilt in der Akutphase das Prinzip, das die Ärzte „Zeit ist Hirn“ nennen: Je schneller die Blutversorgung im Gehirn wiederhergestellt wird, desto größer sind beim ischämischen Schlaganfall die Überlebenschancen. Wichtig ist, den Zeitpunkt des Schlaganfalls so genau wie möglich zu bestimmen, denn nach einem bestimmten Zeitfenster können Therapien wie etwa jene mit dem Stent-Retriever sogar Schaden anrichten.

Bereits im Rettungswagen muss der Notarzt deshalb entscheiden, ob ein Umweg zu einem Krankenhaus mit Katheterlabor und entsprechender Expertise sinnvoll ist. Wenn der Patient nicht ansprechbar ist, können Mediziner das nur mit bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie (CT) oder der Magnetresonanztomographie (MRT) ermitteln.

„Einige Menschen scheinen nach einem Schlaganfall besser zu regenerieren als andere“

Ein normaler Rettungswagen ist dafür nicht ausgestattet. Seit 2011 betreibt die Berliner Feuerwehr deshalb gemeinsam mit dem Centrum für Schlaganfallforschung der Charité das Stroke-Einsatz-Mobil, kurz STEMO. „An Bord können wir mit einem mobilen CT bereits eine Diagnose stellen und schon unterwegs mit der Thrombolyse beginnen“, erklärt Oberarzt Martin Ebinger. Er koordiniert die auf Schlaganfall spezialisierten Neurologen bei den Einsätzen und hat viel Erfahrung auf dem STEMO gesammelt. An Bord gibt es auch eine telemedizinische Ausstattung. Darüber können CTBilder mit einem Neuroradiologen besprochen und weitere Eingriffe effizient geplant werden.

<b>Was danach passiert</b> Holger Gerhardt erforscht die Gefäßneubildung nach einem Schlaganfall. Bild: David Ausserhofer

Für die Grundlagenforschung bietet derzeit die chronische Phase des Schlaganfalls während der Regeneration des Körpers die besten Ansätze. „Wir wollen verstehen lernen, welche Effekte die Selbstheilungskräfte des Körpers haben, um die Gehirnschäden zu kompensieren, insbesondere bei einer frühen Mobilisierung oder unter dem Einfluss von Antidepressiva“, sagt Matthias Endres. „Die entscheidenden Schäden beim Schlaganfall werden auf molekularer und zellulärer Ebene bereits in den ersten Minuten ausgelöst. So schnell kann ich häufig klinisch gar nicht eingreifen, um das zu verhindern.“ Gemeinsam mit seinem Kollegen Holger Gerhardt vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft möchte Endres die Regeneration und Gefäßneubildung beim Schlaganfall erforschen. Den Wissenschaftler Gerhardt fasziniert, wie sich das Gefäßsystem und die Nervenverbindungen nach einem Hirninfarkt umbauen und neu organisieren, um das abgestorbene Gewebe zu kompensieren – das Phänomen der Plastizität.

„Einige Menschen scheinen nach einem Schlaganfall besser zu regenerieren als andere. Bei einem Gefäßverschluss wie beim Schlaganfall kann das Gefäßnetzwerk dieser Patienten schneller einen Umweg der Blut- und Sauerstoffversorgung herstellen. Dadurch sind sie bei einem Hirninfarkt besser geschützt. Wir haben herausgefunden, dass Endothelzellen, die die Innenwand von Gefäßen auskleiden, in der Lage sind, sich dynamisch zu bewegen und ein Gefäß umzubauen. Hier gibt es genetische Zusammenhänge, die wir uns genau anschauen wollen“, erklärt der Experte für Blutgefäßneubildungen. Für einen molekularen Therapieansatz beim Menschen sei es allerdings noch zu früh. Die Planungen für die Kooperation laufen jetzt an.

Drei Wochen liegt der Schlaganfall jetzt zurück. Thomas E. ist in einer Reha-Klinik bei Berlin, er sitzt noch im Rollstuhl. Sprechen konnte er bereits nach drei Tagen in der Charité wieder. Seine schnelle Einlieferung auf die Stroke Unit und die Behandlung mit dem Stent-Retriever haben ihm das Leben gerettet und ihn vor Schlimmerem bewahrt, glaubt er. „Ich bin jetzt zwei Wochen hier und habe schon so viel dazugelernt. Ich konnte vorher gar nichts. Die haben mich hier am Anfang ins Bett gelegt und in den Stuhl gesetzt. Und jetzt gehe ich alleine zur Toilette und stelle mich beim Zähneputzen schon vor das Waschbecken“, sagt er, dann lacht er: „Tanzen kann ich noch nicht wieder!“ Ob er alle Fähigkeiten vollständig zurückgewinnen wird, weiß er nicht. Aber er weiß, dass die Chancen gut stehen.

Lesen Sie, wie Sie einen Schlaganfall erkennen und wie Sie vorbeugen
können, unter: www.helmholtz.de/schlaganfall

Leser:innenkommentare