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Interview

Regeneration von Nervenzellen

<b>Dichtes Netzwerk</b> Die Nervenzellen der Großhirnrinde sind vielfältig miteinander verschaltet, grün gefärbt sind die Mikrotubuli. Bild: AG Sybille Krauss/DZNE

Warum kann ein durchtrenntes Axon, also eine verletzte Nervenbahn, in Armen und Beinen nachwachsen, im Gehirn oder Rückenmark aber nicht? Der Neurologe Dietmar Fischer im Gespräch.

Herr Fischer, wenn wir uns in den Finger schneiden, können wir danach trotzdem noch etwas spüren, weil die Nervenzellen nachwachsen. Nur in Gehirn und Rückenmark funktioniert das nicht. Warum?

Beim Schnitt in den Finger werden Proteine produziert, die das Nachwachsen der Axone ermöglichen. Das funktioniert im peripheren Nervensystem, also etwa an Beinen, Armen oder dem Rumpf. Es funktioniert aber nicht, wenn Axone im zentralen Nervensystem verletzt werden, zum Beispiel im Rückenmark, Gehirn oder am Sehnerv. Und während im peripheren System die Regeneration von verschiedenen Zellen aktiv unterstützt wird, gibt es im zentralen Nervensystem verschiedene Moleküle, die die Regeneration sogar aktiv hemmen.

Gibt es dafür eine Erklärung?

Da kann man nur spekulieren. Vielleicht hilft es, sich Tiere anzuschauen, bei denen das anders ist. Zebrafische etwa können Verletzungen an Sehnerv oder Rückenmark fast vollständig reparieren. Möglicherweise ist das so, weil bei ihnen solche Verletzungen einfach häufiger vorkommen. Wir dagegen sind recht gut geschützt: Unser Rückenmark ist von Wirbeln umschlossen, das Gehirn von Schädelknochen. Daher sind schwere Verletzungen bei uns in diesem Bereich eher selten. Meine Vermutung: Es würde evolutionstechnisch gesehen einfach keinen großen Vorteil darstellen, wenn wir eine hohe Regenerationsfähigkeit hätten.

Dietmar Fischer ist Professor für Experimentelle Neurologie und forscht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vor allem zur Regeneration des Sehnervs. Er hat unter anderem mithilfe des Krebsmedikaments Taxol Nervenzellen zum Nachwachsen gebracht. Bild: HHU Düsseldorf

Aber für viele Menschen ist genau das trotzdem ein Problem.

Ja, etwa nach einem schweren Unfall: Schädigungen an Rückenmark oder Gehirn sind dann irreparabel. Ein anderes Beispiel ist der Schlaganfall: Da kommt es zu einer Minderversorgung mit Blut und dann zu einem Absterben des Gewebes, wodurch ebenfalls Axone geschädigt werden. Beim Glaukom, einer relativ häufig auftretenden Augenkrankheit, werden Axone im Sehnerv geschädigt, was zum Absterben der gesamten Nervenzellen in der Netzhaut führt. Bei der Multiplen Sklerose werden die Myelinhüllen, welche die Axone umgeben und schützen, durch bestimmte Entzündungsprozesse geschädigt. Diese ungeschützten Axone können ebenfalls zerstört werden.

Es gibt also genug Gründe, intensiv zu forschen. Warum befinden wir uns trotzdem noch immer in der Grundlagenforschung?

Die Entwicklung von Therapien ist sehr komplex. Damit eine Nervenzelle regenerieren kann, müssen mindestens sechs Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Zellkörper der Nervenzelle am Leben erhalten werden, obwohl das lebenserhaltende Axon durchtrennt ist. Zweitens müssen Proteine produziert werden, damit das Axon wieder wachsen kann. Drittens: Wachstumshemmende Faktoren müssen beseitigt werden – oder Sie müssen die Signalwege innerhalb des Wachstumskegels derartig verändern, dass sie unempfindlich gegenüber diesen Hemmstoffen werden. Viertens: Die Axone müssen dazu gebracht werden, dass sie beim Wachsen ihr ursprüngliches Zielgebiet wiederfinden. Das nächste Problem, fünftens: Es müssen stabile Synapsen ausgebildet werden, das ist auch ein sehr komplexer Vorgang. Sechstens müssen die Axone schließlich wieder umhüllt, also myelinisiert werden. Erst dann wäre eine erneute Funktion möglich.

Klingt herausfordernd ...

Dazu kommen Probleme, wenn man im Labor getestete Verfahren auf den Menschen übertragen will. Es gibt zum Beispiel einen vielversprechenden Ansatz, bei dem die Bildung eines bestimmten Proteins unterdrückt wird – welches allerdings in anderen Zellen die Entstehung von Krebs verhindert. Solche Behandlungen können also auch zu Tumorwachstum führen. Wenn man diesen Ansatz für den Menschen nutzbar machen will, ist noch einiges zu tun.

Welche Patienten könnten am ehesten von Fortschritten profitieren?

Nach einem Schlaganfall bildet die gesunde Seite des Gehirns oft neue Verknüpfungen in den geschädigten Teil aus, so kann ein Teil der verlorengegangenen Funktion kompensiert werden. Derartige Prozesse zu unterstützen, das kann vielleicht am schnellsten umgesetzt werden.Viel schwieriger ist es beispielsweise bei einer Erblindung nach Sehnervschädigungen oder bei einer Querschnittslähmung. Ich persönlich glaube nicht, dass es in absehbarerer Zeit gelingen wird, dass ein Patient genau so wird laufen oder sehen können wie vorher. Aber wir sind ja schon sehr froh darüber, wenn nur ein Teil der verlorengegangenen Funktionen wiederhergestellt werden kann – etwa, um den Rollstuhl bedienen zu können.

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