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Per Anhalter um die Erde

Pflanzen erobern neue Kontinente

Ingolf Kühn ist Mitarbeiter im Department Biozönoseforschung am UFZ und Professor für Makroökologie an der Martin-Luther University Halle-Wittenberg. Foto: André Künzelmann/ UFZ

Ein Viertel der hiesigen Flora besteht aus Pflanzen, deren Heimat eigentlich in anderen Ländern liegt. Auch die so beliebten Kartoffeln und Tomaten gehören dazu. Ingolf Kühn erforscht, warum sich diese Pflanzen bei uns so wohl fühlen und ob sie unserem Ökosystem Probleme bereiten.

„Geht bloß nicht zu nah ran, Kinder, ihr könnt Euch verbrennen“, hatte die Mutter gerufen. Dabei war die Versuchung groß, die Wunderpflanze mit ihren weißen Dolden und Blättern so groß wie Regenschirme anzufassen. Innerhalb weniger Wochen war sie drei Meter hoch gewachsen – die Nachbarschaft im sauerländischen Fröndenberg staunte und die Eltern waren stolz auf die Rarität in ihrem Garten. Als sie aber erfuhren, wie schmerzhaft und gefährlich eine Berührung sein kann, war das Gewächs bald verschwunden. Ingolf Kühn war damals ein kleiner Junge und es war seine erste Begegnung mit dem Riesen-Bärenklau.

Inzwischen ist Kühn 48 Jahre alt und der Riesen-Bärenklau beschäftigt ihn immer noch. Am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Halle erforscht er, wie Pflanzenarten wie der Koloss aus dem Kaukasus es schaffen, sich hierzulande breit zu machen. Die auch als Herkulesstaude bekannte Pflanze ist längst nicht mehr nur in einzelnen Gärten zu finden. Sie wuchert entlang von Bächen und auf feuchten Wiesen, auf Brachen und in Parks und überall verdrängt sie heimische Arten. Wer sie anfasst, kann sich schwer heilende Hautblasen einhandeln, auch allergische Reaktionen sind möglich. „Der Riesen-Bärenklau ist dermaßen verbreitet, den kriegen wir aus Deutschland nicht mehr raus“, sagt Ingolf Kühn.

Das ist nicht bei allen gebietsfremden Arten so, deren Treiben der Ökologe erkundet. „Je kürzer sie hier sind und je seltener Nachschub aus der Herkunftsregion kommt, desto größer ist die Chance, sie wieder loszuwerden“, sagt Kühn. Inzwischen stellen die fachsprachlich als Neophyten bezeichneten Pflanzen immerhin schon fast ein Viertel der hiesigen Flora. Sie kommen in der Regel aus Weltregionen mit ähnlichen Klimabedingungen: aus Süd- oder Südosteuropa, aber auch aus Asien wie der Japanische Staudenknöterich oder aus Nordamerika wie die Beifuß-Ambrosie und die Robinie. Wie tief der Migrationshintergrund in die Geschichte zurückreichen kann, zeigt die Kartoffel: Sie kam um 1550 aus Südamerika nach Europa und in dieser Epoche der großen Entdeckungsreisen beginnt nach modernem Verständnis auch das Zeitalter der Neophyten.

Auf die Kartoffel verzichten, möchte heute kaum noch jemand. Auch viele andere neue Arten werden als Bereicherung empfunden – die Tomate zum Beispiel oder die Lupine. „Ärger machen hierzulande nur etwa fünfzig gebietsfremde Arten“, sagt Ingolf Kühn. Die Probleme haben manchmal mit gesundheitsschädlichen Eigenschaften der Pflanze zu tun, meistens aber mit ihrem ungehemmten Wachstum auf Kosten alteingesessener Arten.

Wie aber schaffen Neophyten den weiten Weg aus ihrer Heimat nach Mitteleuropa? Mit Zufall habe das wenig zu tun, sagt der Forscher aus Halle: „Die meisten gebietsfremden Arten sind hier, weil wir sie hier haben wollen.“ Ingolf Kühn ist einer der meistzitierten Wissenschaftler seines Fachgebiets. Besondere Beachtung fand seine im Wissenschaftsmagazin PNAS erschienene Studie zur grünen Migration. Stark ausgeprägt sei diese, so ein Befund, in wohlhabenden Ländern mit einem dichten Netz von Verkehrswegen und Handelsbeziehungen in alle Welt. In Deutschland entwickelte sich diese Infrastruktur gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Sie ermöglichte die Verbreitung vieler neuer, bis heute hier ansässiger Pflanzenarten.

Was damals begann, ist längst nicht zu Ende: Alle Prognosen besagen, dass wir mit immer mehr gebietsfremden Arten rechnen müssen. Um deren Einfluss auf die hiesige Natur schnell einschätzen zu können, entwickelt Ingolf Kühns Forscherteam derzeit Modelle von Ökosystemen. Mit ihrer Hilfe, so die Vision, lässt sich irgendwann vielleicht auf Knopfdruck vorhersagen, welche Arten Probleme machen und welche nicht. Oder wie ein Ökosystem verändert werden muss, um auch bei einem Temperaturanstieg von zwei, drei Grad Celsius noch gut zu funktionieren.

Für solche Berechnungen sitzt der Wissenschaftler den lieben langen Tag am Computer. Begonnen hatte alles einmal ganz anders: „Als Zivi im Bereich Naturschutz war ich ständig draußen. Da bin ich auf den Geschmack gekommen.“ Kühn studierte Geografie und Biologie in Münster und Bochum und promovierte über ein Thema aus der Biodiversitätsforschung. Karriereplanung habe er nie betrieben sagt er, alles habe sich irgendwie ergeben. Nach einigen Jahren als Wissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum kam Kühn im Jahr 2001 zusammen mit seiner Frau – sie koordiniert heute das Tagfaltermonitoring am UFZ – und den beiden Söhnen nach Halle. Seit fünf Jahren ist Ingolf Kühn stellvertretender Leiter des UFZ-Departments Biozönoseforschung – das ist die Wissenschaft vom Zusammenleben von Pflanzen- und Tierarten an einem Ort – und seit einem Jahr Professor für Makroökologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Wenn es dem agilen Wissenschaftler im Büro zu eng und der Stress zu groß wird, zieht es ihn in die Natur: „Dann nehme ich einen Tag frei und fahre ins Elbsandsteingebirge zum Klettern – am liebsten mit einem Kollegen.“ Im Grunde, sagt er, fasziniere ihn fast jede Art von Bergsport und je höher es hinaufgehe, desto wohler fühle er sich.

Bei seinen Bergwanderungen kann der Wissenschaftler gar nicht anders, er sondiert die Pflanzenwelt. Je höher es hinaufgeht, desto seltener werden gebietsfremde Arten. Einem Riesen-Bärenklau, sagt Ingolf Kühn, sei er bei diesen Touren zum Glück noch nicht begegnet.

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