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Gendermedizin

Kleiner Unterschied ganz groß

Bild: graphicsdunia4u - Fotolia.com

Lange spielten die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Medizin keine große Rolle. Doch Frauen erkranken anders als Männer und müssen manchmal auch anders behandelt werden. Doch warum ist das so? Die Gendermedizin versucht es herauszufinden

Brustschmerz, Beklemmung, Angst, ein Ziehen bis in den linken Arm - da schrillen bei vielen Menschen die Alarmglocken: Achtung, Herzinfarkt! Doch mittlerweile wissen die Mediziner, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Die beschriebenen Symptome sind zwar für Männer typisch, bei Frauen dagegen könne sich ein Herzinfarkt ganz anders bemerkbar machen: Etwa durch Schmerzen in Rücken und Bauch oder Übelkeit. Mit fatalen Folgen: Ein Herzinfarkt wird bei Frauen deutlich seltener erkannt.

Es dringt nur langsam in das Bewusstsein von Medizinern, Forschern und Medikamentenentwicklern, dass Frauen und Männer anders krank sind - obwohl sie an derselben Krankheit leiden. Der Begriff Gendermedizin tauchte erstmals in den 1980er Jahren auf. Auch nach über 30 Jahren scheint im medizinischen Alltag wenig angekommen zu sein, wenn es darum geht, Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. So erhalten Frauen und Männer noch immer dieselben Medikamente, bestenfalls unterschiedlich dosiert. Bei Herzerkrankungen sind die Mediziner am weitesten, was die Erkenntnis von geschlechtsspezifischen Unterschieden angeht. Die Herzspezialisten entdecken immer mehr Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Am plötzlichen Herztod etwa sterben fast nur Männer. Das "Broken Heart Syndrom" - eine Verengung der Herzgefäße aufgrund einer massiven Ausschüttung von Stresshormonen - betrifft vorwiegend Frauen. Ein wichtiges Ziel der Gendermedizin ist es, zu verstehen, was das eine Geschlecht schützt und auf dieser Basis neue Therapien auch für das andere zu entwickeln.

Die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek ist seit 2007 Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin - das einzige dieser Art in Deutschland. Vera Regitz-Zagrosek erforscht den Geschlechterunterschied auf verschiedenen Ebenen. Sie leitet seit acht Jahren ein DFG-Projekt, an dem auch das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) - Berlin Buch beteiligt ist. An Mausmodellen untersuchen die Forscher, wie sich das Herzkreislaufsystem männlicher und weiblicher Tiere unter dem Einfluss von Ernährung, Ausdauertraining und mechanischem Druck durch Bluthochdruck anpasst. Fazit: Das weibliche System ist anpassungsfähiger und zeigt günstigere Stoffwechselreaktionen, unter anderem bei Infarkten. Nun suchen die Forscher nach den Mechanismen, die das weibliche Tier offensichtlich besser schützen. In einem anderen Projekt durchforstet das Team von Regitz-Zagrosek wissenschaftliche Veröffentlichungen nach Gender-Aspekten und stellt sie in einer Datenbank zu Verfügung - ein wichtiger Beitrag um die Erkenntnisse publik zu machen. In der Ausbildung von Medizinern spielt die Gendermedizin bislang kaum eine Rolle.

Eine Krankheit, zwei Ausprägungen

Doch woher kommen die Unterschiede? Die Ursachen liegen in der unterschiedlichen Biologie von Frau und Mann. Zum einen sind es genetische Unterschiede: Frauen sind mit ihren beiden X-Chromosomen genetisch wesentlich üppiger ausgestattet als Männer mit einem X- und einem Y-Chromosom. Wie Forscher vor etwa zehn Jahren herausfanden, trägt jedes X-Chromosom mehr als 1.500 Gene, das Y-Chromosom dagegen nur 78. Ein zweiter wichtiger Faktor sind die Geschlechtshormone: Sie wirken direkt auf die genetische Aktivität jeder einzelnen Zelle. Dies führt letztlich zu wesentlichen Unterschieden im Stoffwechsel, der sowohl für das Entstehen einer Krankheit als auch für deren Therapie entscheidend ist. "Darüber hinaus müssen soziokulturelle Faktoren wie das Rauch- und Essverhalten einbezogen werden, die zwischen den Geschlechtern sehr verschieden sein können", betont Regitz-Zagrosek. Für die Forschung bedeutet das: Viele Prozesse müssen an weiblichen Zellen und Modellen erneut untersucht werden. Auch in Tierversuchen , denn hier arbeiten die Forscher standardmäßig mit männlichen Tieren im jungen Erwachsenenalter.

Weibliche vs. männliche Kommunikation

Einen ganz anderen Blick auf das Thema Gendermedizin hat Christian Grohé, Pneumologe von der Evangelischen Lungenklinik in Berlin-Buch. Er plädiert dafür, der Kommunikation zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin mehr Beachtung zu schenken und die Forschung einzubeziehen. Denn auch hier gebe es prägnante Unterschiede: "Ärztinnen fragen anders als ihre männlichen Kollegen, das ist von zentraler Bedeutung - nicht nur in der Arztpraxis, sondern auch bei Studien." Aber auch im täglichen Patientengespräch kommunizieren Ärztinnen und Ärzte unterschiedlich, wie Grohé berichtet: "Zum einen unterscheiden sie sich im Überbringen schlechter Diagnosen wie Lungenkrebs. Zum anderen kommunizieren männliche und weibliche Patienten ihre Bedürfnisse ganz unterschiedlich". Grohé hat diese Kommunikation systematisch evaluiert. Die Ergebnisse sollen am Ende in Leitlinien und die Medizinerausbildung fließen.

Der differenziertere Blick auf die Medizin ist wichtig und hat Vorteile für beide Geschlechter. Beispielsweise bei der Diagnose von Erkrankungen, die als eher weiblich gelten, wie Depressionen oder Osteoporose. Die Erforschung geschlechtsspezifischer Krankheiten soll zu wesentlichen Erkenntnissen führen, die Frauen und Männer mit demselben Krankheitsbild entsprechend ihres Geschlechts behandelt. "Das ist erst einmal teurer, weil mehr Aufwand erforderlich ist. Doch insgesamt wird es einen volkswirtschaftlichen Nutzen geben", ist Vera Regitz-Zagrosek überzeugt.

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