Direkt zum Seiteninhalt springen

Standpunkte

„Wie frei und unabhängig können Doktoranden forschen?“ 

Jedes Jahr schließen rund 30.000 Doktoranden in Deutschland erfolgreich ihre Promotion ab. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen sie sich möglichst selbstständig und unabhängig ihrer Doktorarbeit widmen. Doch wie frei können Doktoranden in Deutschland wirklich arbeiten? Zwei Blickwinkel. 


Heinz KaltProfessor für Angewandte Physik und Ombudsperson zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)Bild: Jindrich Novotny

"Es gab in den vergangenen Jahren entscheidende Entwicklungen, die die Rechte der Doktoranden fundamental gestärkt haben."

In der Regel arbeiten Doktoranden in einem begrenzten Themengebiet, das durch die meist projektgebundene Forschung eines Instituts vorgegeben ist. Damit ergibt sich automatisch eine Verantwortung dem Geldgeber gegenüber, beispielsweise mit Blick auf die Verwendung von Mitteln im Sinne der geförderten Thematik und die Erfüllung von Meilensteinen. Weitere Einschränkungen können durch Gesetze, Verträge oder Vertraulichkeitsvereinbarungen gegeben sein. Dies sind gravierende, aber legitime Einschränkungen der Forschung im Rahmen einer Dissertation. Aber es gibt auch immer wieder Doktoranden, denen die Einreichung ihrer Dissertation ohne substanzielle Begründung oder denen die Verwertung unliebsamer Ergebnisse verboten wird. 

In den vergangenen Jahren gab es jedoch entscheidende Entwicklungen, die die Rechte der Doktoranden fundamental gestärkt haben. Maßnahmen zur Qualitätssicherung etwa sind per Gesetz in vielen Bundesländern vorgeschrieben. Hierzu gehören unter anderem Betreuungsvereinbarungen, die die Professoren verpflichten, die wissenschaftliche Selbstständigkeit der Doktoranden zu unterstützen. Weiterhin haben inzwischen alle wissenschaftlichen Einrichtungen verbindliche Regeln zur guten wissenschaftlichen Praxis (gwP) erlassen. Diese sollen unter anderem verhindern, dass den Doktoranden bezüglich der Ergebnisse ihrer Forschung Vorgaben gemacht werden, die etwa mit möglichen Interessen von Geldgebern zusammenhängen, mit dem Schutz des Ansehens oder der Tradition einer Institution oder auch mit den Karriereplänen von Betreuern. Die Regeln der gwP verpflichten alle Wissenschaftler zur ergebnisoffenen Forschung und implementieren den offenen wissenschaftlichen Diskurs als Grundprinzip.  

Dies bedeutet zum Beispiel, dass eine gängige Lehrmeinung auf der Basis belegbarer Argumente oder klarer wissenschaftlicher Resultate angezweifelt werden darf. Oder dass Projekte den vorgeschriebenen Weg verlassen dürfen und sollen, wenn sich wesentliche neue Erkenntnisse ergeben. 

Es gibt sie leider noch vereinzelt: Wissenschaftler, die sich einer transparenten Forschung verweigern. Hier stehen den Doktoranden Ombudspersonen und -gremien als Ansprechpartner und Vermittler zur Verfügung. Es ist von enormer Wichtigkeit, dass die Regeln der gwP immer mehr Teil der DNA der Forschergemeinschaft werden. Jeder Doktorand darf und sollte sich auf diese Regeln berufen. Dies stärkt nicht nur die Rechte der Doktoranden, es stärkt auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft.   


Tim Lienig Doktorand im Bereich Mikrostrukturforschung des Peter-Grünberg-Instituts am Forschungszentrum Jülich und Sprecher der Doktoranden-initiative Helmholtz JuniorsBild: Jindrich Novotny

"Beim genaueren Blick auf das Arbeitsumfeld von Doktoranden fallen Einschränkungen verschiedenster Art ins Auge." 

Doktoranden forschen in zukunftsweisenden Bereichen und leisten einen maßgeblichen Beitrag zur Beantwortung drängender Fragen der Gesellschaft. Sie arbeiten beispielsweise an der Gestaltung der Energiewende mit, erkunden neue Wege in der Informationstechnologie oder helfen, Volkskrankheiten besser zu verstehen. Oft finden Doktoranden dabei gute Voraussetzungen für ihre Arbeit vor – aber immer wieder stoßen sie auch an Grenzen, die ihre Forschungsfreiheit nachhaltig einschränken.

Ein Blick auf die positiven Aspekte offenbart, wie die Forschung für Doktoranden in Deutschland sein sollte und oft auch ist: In erster Linie ist es die Aufgabe der Doktoranden, eine – meist in Zusammenarbeit mit ihren Doktormüttern und -vätern entwickelte – Hypothese in ihrem Forschungsgebiet zu prüfen und bestenfalls zu bestätigen. Methodisch stehen den Doktoranden dafür viele Möglichkeiten offen, auch durch den Zugang zu einzigartiger Forschungsinfrastruktur. Die Vernetzung mit Forschenden weltweit, auf Konferenzen oder bei Forschungsaufenthalten, ermöglicht offene Diskussionen über Forschungsfragen und Zugang zu deren Expertise. 

Dass Doktoranden mit ihrer Promotionsstelle grundsätzlich zufrieden sind, bestätigen Umfragen immer wieder. Beim genaueren Blick auf das Arbeitsumfeld von Doktoranden fallen jedoch auch Einschränkungen verschiedenster Art ins Auge. An ihren Instituten werden ihnen Aufgaben übertragen, die nicht unmittelbar mit ihrem Promotionsvorhaben vereinbar sind und damit wertvolle Zeit kosten oder sogar als Ausnutzung empfunden werden. 

Wichtige Gesprächspartner und wissenschaftliche Führungskräfte sind für Doktoranden immer öfter nicht erreichbar – dadurch ist es schwierig, über Zwischenergebnisse und die nötigen nächsten Schritte zu diskutieren. Deutlich herauszustellen ist, dass die vertragliche Situation für viele Doktoranden nicht zufriedenstellend ist. Oft fehlen konkrete Vereinbarungen über Projektlänge und -ziele und klare Perspektiven für die Zeit nach der Promotion. Das macht eine längerfristige Planung in einer sehr entscheidenden Lebensphase oft unmöglich – und ja: Das schränkt die empfundene und tatsächliche Unabhängigkeit und Freiheit empfindlich ein. 

Wir müssen verstärkt und offen über diese Missstände diskutieren und Verbesserungen konsequent umsetzen. Nur so gewährleisten wir, dass weiterhin eine hohe Qualität in der Wissenschaft erreicht werden kann.     

Leser:innenkommentare